Nico Stehr, Christoph Henning und Bernd Weiler

Die »Entzauberung der Eliten«:
Wissen, Ungleichheit und Kontingenz*

In einem vor rund drei Jahrzehnten gehaltenen Vortrag vor Mitarbeitern des damals noch riesigen, heute jedoch nicht mehr existierenden amerikanischen Telekommunikationskonzerns AT&T entwarf der Soziologe Daniel Bell ein Porträt der amerikanischen Gesellschaft im Jahre 2003. Wenig überraschend spielte in dieser gesellschaftstheoretischen Vorausschau der Begriff der postindustriellen Gesellschaft eine zentrale Rolle. Nach Bell ermöglicht es das Konzept der postindustriellen Gesellschaft, jene tiefen, die soziale Wirklichkeit umgestaltenden Strukturen freizulegen, die in der Gegenwart bereits latent vorhanden sind, ihr volle Wirksamkeit jedoch erst in der Zukunft entfalten werden.

Im Folgenden geht es nicht um die Beurteilung, ob die Bellsche Skizze der amerikanischen Gesellschaft im Jahr 2003 bzw. seine Archäologie zentraler gesellschaftlicher Entwicklungstendenzen richtig oder falsch gewesen ist. Vielmehr wollen wir uns seines methodischen Kunstgriffs bedienen und bestimmte emergente Aspekte der komplexen sozialen Ordnung der Gegenwart gedanklich sowie begrifflich isolieren, um sie für den Zweck der Erkenntnisgewinnung neu zu gruppieren (vgl. Schon 1967). Unser konkretes Erkenntnisinteresse gilt hierbei der Frage nach der Existenz und Erscheinungsform von Eliten in den sich herausbildenden Wissensgesellschaften. Diese Frage ist eingebettet in die Problematik sozialer Ungleichheit und der allgemeinen Machtverhältnisse in modernen Gesellschaften. Von Eliten lässt sich nämlich nur dann sinnvoll sprechen, wenn Eliten nicht als isolierte, ahistorische und vollkommen freischwebende soziale Akteure aufgefasst werden, sondern in Beziehung zu den in einer bestimmten Gesellschaft jeweils vorherrschenden Machtverhältnissen und Strukturen sozialer Ungleichheit gesetzt werden. Aus methodischer Perspektive sei einleitend betont, dass eine Untersuchung dieser Art Entscheidungen darüber voraussetzt, welche sozialen Kräfte und Erscheinungen der Gegenwart auch für die Gesellschaft der Zukunft als bedeutsam und zentral angesehen werden. Eine solche Untersuchung beruht demnach eher auf der theoretisch begründeten Extrapolation bestimmter als zentral angesehener Entwicklungstendenzen als auf der Sammlung empirischer Einzelbefunde. Sie muss demnach aus heuristischen Überlegungen bewusst eine Vielzahl von sozialen Erscheinungen ausblenden und bedarf – dies gestehen wir bereitwillig ein – eines gewissen Maßes an Spekulation. Hieraus folgt auch, dass eine vorrangig quantitativ ausgerichtete Untersuchung über die Existenz und die Rolle von Eliten in den Wissensgesellschaften wenig Aussagekraft besitzt. Hierfür fehlen nicht nur die notwendigen Indikatoren und Daten, sondern insbesondere die theoretische Ausarbeitung und Konzeptualisierung dieser Problematik. Zu letzterem will dieser Aufsatz einen kleinen Beitrag leisten.

Die folgende Abhandlung verfolgt im wesentlichen zwei Ziele: Erstens möchten wir zeigen, dass das bisherige Verständnis von Eliten, sozialer Ungleichheit und gesellschaftlicher Macht eng an eine bestimmte Theorie der Gesellschaft, nämlich an die Theorie der Industriegesellschaft, geknüpft war. Da jedoch, so unsere These, die industrielle Gesellschaft sich im Westen dem Ende zuneigt, wandeln sich, verschieben sich und verschwinden teilweise auch jene Bedingungen, die bisher die Basis der sozialen Stratifikation und der Existenz von Eliten bildeten. Zweitens ist es aufgrund dieser Entwicklungen notwendig und lohnenswert, die Ursachen und Folgen sozialer Ungleichheit in der modernen Gesellschaft grundsätzlich neu zu überdenken und damit auch die Frage nach der Präsenz von Eliten in der heutigen Gesellschaft neu zu stellen.

I. Industriegesellschaften und soziale Ungleichheiten Die Analyse sozialer Klassen ist in Verruf geraten. Ihr Ableben ist wahrscheinlich auch durch das Verschwinden der Staaten beschleunigt worden, die sie in der Praxis abschaffen wollten. Die noch verbliebene, sich als unabhängig von der marxistischen Klassen- und Schichtungstheorie verstehende Untersuchung sozialer Ungleichheit lässt sich auf eine Analyse der Ungleichheit in Industriegesellschaften reduzieren, die von konventionellen Klassifikationen Gebrauch macht und sich auf Arbeitsmarktstrukturen und Produktionseinheiten beschränkt (vgl. Goldthorpe/Marshall 1992).

Im Mittelpunkt klassischer Theorien sozialer Ungleichheit sowie ihrer modernen Ableitungen steht die vertikale Dimension, das Höher und Tiefer, das Oben und Unten von sozialen Klassen und Schichten. Die vertikale Positionierung wiederum ergibt sich aus den Beziehungen von Personen oder Gruppen zu Eigentum und seinem Marktpreis, einschließlich der Löhne, die sich aus dem Verkauf des Eigentums an der Arbeitskraft erzielen lassen. Aus diesen Prämissen folgt, dass sich soziale Hierarchien in industriellen Gesellschaften letztlich immer in Bezug auf den produktiven Prozess und die Folgen seiner spezifischen Organisation konstituieren und legitimieren. Direkt oder indirekt ist demnach soziale Ungleichheit eine Funktion der Beziehung des Einzelnen zu Arbeit oder Eigentum und den monetären Gewinnen in Form von Löhnen, Zinsen, Profiten und Mieten. Die Identität des Einzelnen ist somit durch seine Beziehung zum Arbeits- bzw. Produktionsprozess geprägt, wenn nicht sogar determiniert. Soziale Schichten und Klassen konstituieren sich in gleicher Weise. Mit anderen Worten: Sowohl marxistische als auch nicht-marxistische Ansätze fassen die moderne Industriegesellschaft  noch immer vorrangig als eine Arbeitsgesellschaft auf.

In den letzten beiden Jahrzehnten haben Schichtungstheoretiker auf neue Formen der Ungleichheit hingewiesen, welche die Lebenschancen, den Lebensstil und das soziale Ansehen des Einzelnen berühren (vgl. z. B. Hondrich 1984).1 Der Beruf, die Arbeit und ihre unmittelbaren Folgen geraten in diesen Theorien fast schon zu Sekundärmerkmalen der Analyse sozialer Ungleichheit. Die Einbeziehung dieser neuen Formen der Ungleichheit und somit die empirische und theoretische Erweiterung der Analyse wurde erforderlich, da sich die Industriegesellschaft von einer mehr oder minder eindimensionalen Berufs- zu einer mehrdimensionalen Arbeitsgesellschaft wandelt.

Die Berücksichtigung dieser neuen Formen sozialer Ungleichheit reicht unseres Erachtens jedoch nicht aus, sondern es bedarf erheblicher darüber hinausgehender Korrekturen. Die Notwendigkeit dieser grundlegenden Revision hängt vor allem damit zusammen, dass sich die Wirtschaftsstruktur der Industriegesellschaft radikal gewandelt hat und eine neue wissensbasierte Ökonomie im Entstehen begriffen ist. Jene Faktoren, die für den Ablauf der Produktionsprozesse in den Industriegesellschaften maßgeblich waren, scheinen heute als Bedingungen für die Möglichkeit wirtschaftlichen Wachstums mehr und mehr an Bedeutung zu verlieren. Dazu gehören insbesondere die Entwicklung von Angebot und Nachfrage nach Primärgütern und Rohmaterialien; die Ab-hängigkeit der Nachfrage nach Arbeit vom Produktionsumfang; die relative Bedeutung des Herstellungssektors, der die Primärgüter verarbeitet; die Rolle der Arbeit (im Sinne von Handarbeit) und deren soziale Organisation; die Bedeutung des internationalen Handels mit Waren; die Funktion von Ort und Zeit im Produktionsprozess, sowie die Grenzen des Wachstums der wirtschaftlichen Wertschöpfung. Gemeinsamer Nenner dieser Veränderungen in der Wirtschaftsstruktur der Industriegesellschaften ist der Wechsel von einer Ökonomie, deren Produktion hauptsächlich durch materielle Faktoren bestimmt wird, zu einer Wirtschaft, in der Produktion und Distribution auf wissensfundierten Faktoren basiert. Mit dem Ende der herkömmlichen Industriegesellschaft und dem Aufkommen einer neuen Gesellschaftsformation verschwinden Arbeit und Eigentum nicht; aber Wissen tritt als Strukturierungsmechanismus in Konkurrenz zu ihnen. Die Veränderungen in Struktur und Ablauf der modernen Wirtschaft spiegeln zusehends die Tatsache wider, dass Wissen zum Motor im Produktionsprozess wird, zur primären Voraussetzung für eine weitere wirtschaftliche Expansion und der Herausbildung neuer Grenzen des wirtschaftlichen Wachstums in den entwickelten Ländern. In der Wissensgesellschaft machen kognitive Faktoren, Kreativität, Wissen und Information in zunehmendem Maße den Großteil des Kapitals eines Unternehmens aus. Wissen wird zu dem entscheidenden Rohstoff, wird zunehmend wichtiger als Kohle, Erdöl und Eisen. Zusammenfassend bedeutet dies, dass in den Wirtschaften dieser Gesellschaften für die Produktion von Gütern und Dienstleistungen mit Ausnahme der hochstandardisierten Güterproduktion andere Faktoren im Mittelpunkt stehen als »the amount of labor time or the amount of physical capital« (Block 1985: 95; vgl. auch Drucker 1986; Lipsey 1992).

Die zunehmende Bedeutung von Wissen als Strukturierungsmechanismus beschränkt sich jedoch nicht nur auf den Bereich des Ökonomischen, sondern Wissen wird zum Organisationsprinzip und zur Problemquelle der modernen Gesellschaft schlechthin. Gerade da Wissen, Technik und Wissenschaft in alle gesellschaftlichen Lebensbereiche und Institutionen vordringen, reicht auch die primär auf Arbeit und Eigentum als konstitutive Merkmale rekurrierende Logik der Industriegesellschaft nicht mehr aus, um Ungleichheit und Schichtung in der modernen Gesellschaft zu erfassen.2 Zusehends wird Wissen zu einer entscheidenden Ressource des Einzelnen, welche seine praktische Handlungsfähigkeit, seine (kulturellen) Handlungsziele und seine (materiellen) Handlungsspielräume grundlegend bestimmt. Wissen wird somit – wie im folgenden Abschnitt näher ausgeführt werden soll – zu einem grundlegenden Stratifikationsprinzip moderner Gesellschaften.

II. Wissensgesellschaften und soziale Ungleichheiten Genau wie Wissen schon immer eine Rolle im menschlichen Handeln gespielt hat, ist es, zumindest als kulturelle Handlungsressource, schon immer im Kontext gesellschaftlicher Ungleichheit bedeutsam gewesen. So haben z. B. die Fähigkeit zu lesen und zu schreiben, aber auch andere kulturelle Fertigkeiten, wie die Gesetzeskenntnis oder das religiöse »Wissen«, eine wichtige Rolle in der Bestimmung des sozialen Ansehens und gesellschaftlichen Einflusses gespielt (Stinchcombe 1968: 326f.). Die entscheidenden Fragen in unserem Zusammenhang sind jedoch, wie sich die wachsende Bedeutung des Wissens in der modernen Gesellschaft auf das System der sozialen Ungleichheit auswirkt bzw. inwieweit Wissen generell die Struktur der sozialen Schichtung der industriellen Gesellschaft transformiert. Ehe wir jedoch diese Fragen zu beantworten suchen, soll zuerst geklärt werden, welche strukturellen Veränderungen dazu führten, dass Wissen im Kontext der Formation von Ungleichheit an Bedeutung gewonnen hat.

Soziostrukturelle Voraussetzungen für die Entwicklung von Wissen als Stratifikationsprinzip Wir möchten auf drei grundsätzlich relevante soziale Transformationsprozesse verweisen, die als Basis und Bedingung für die Entwicklung von Wissen als Stratifikationsprinzip gelten.3 Zu diesen neuartigen soziostrukturellen – nicht ausschließlich kulturellen, sondern auch sozioökonomischen, rechtlichen und politischen – Bedingungen4 gehört der relative Verlust der unmittelbaren gesamtgesellschaftlichen Bedeutung der Ökonomie, insbesondere des Arbeitsmarktes, für Individuen und Haushalte. Gemeint ist hiermit der Rückgang, nicht die Aufhebung der direkten materiellen Abhängigkeit der Individuen und Haushalte von Aktivitäten, die sich im Rahmen des Marktes abspielen, insbesondere der Abhängigkeit von der beruflichen Situation. Was sich verringert hat, ist der Grad und die Ausschließlichkeit der materiellen Abhängigkeit der Akteure von ihrer Berufsposition, und was sich erhöht hat, sind die Chancen der Haushalte auf eine relative Unabhängigkeit vom Arbeitsmarkt aufgrund erheblich verbesserter Vermögensverhältnisse. Trotz starker oder – wie von manchen behauptet – wachsender Ungleichheiten in der Verteilung des Wohlstandes und trotz konjunktureller Einbrüche sollte man nicht übersehen, dass dies mit einer ökonomischen Entwicklung der industriellen Gesellschaften Westeuropas und Nordamerikas in den Jahren von 1950 bis 1985 zusammenhängt, die als historisch durchaus einmalig angesehen werden kann; nämlich mit dem enormen Anwachsen des allgemeinen Wohlstandsniveaus.

Wie Alan Milward zutreffend bemerkte:

»[B]y the end of this period the perpetual possibility of serious economic hardship which had earlier always hovered over the lives of three-quarters of the population now menaced only about one fifth of it. Although absolute poverty still existed in even the richest countries, the material standard of living for most people improved almost without interruption and often very rapidly for thirty-five years. Above all else, these are the marks of the uniqueness of the experience« (Milward 1992: 21). Ein weiterer wichtiger Grund für die Veränderung der Grundlage der sozialen Ungleichheit muss in der Errichtung, Ausgestaltung und Garantie eines Bündels von Staatsbürgerrechten, insbesondere eines Existenzminimums, gesehen werden (vgl. Dahrendorf 1987). Die politische Durchsetzung sozialer Anrechte reduziert die unmittelbare Abhängigkeit der Individuen und Haushalte von der Wirtschaft im Allgemeinen und vom Arbeitsmarkt im Besonderen. Die Loslösung von einer unmittelbaren materiellen Abhängigkeit, der Rückgang von Einschüchterungsmöglichkeiten sowie der Gewinn an existentiellem Schutz schaffen für den Einzelnen neue Handlungsspielräume.5 Die letzte wichtige soziostrukturelle Veränderung, die den geringeren Stellenwert der Wirtschaft für die Existenz des Einzelnen signalisiert und auch beeinflusst, ist der Verlust einst bedeutender exemplarischer Verhaltensregeln oder autoritärer Mittelpunkte der Gesellschaft. Die moderne Gesellschaft hat nicht mehr nur, trotz der Rede von der Homogenisierung oder Globalisierung ihrer Lebensverhältnisse, einige wenige einflussreiche (oder monolithische) politische Parteien, Familienstrukturen, Gewerkschaften, Geschlechtsbeziehungen, religiöse Gemeinschaften, wissenschaftliche Disziplinen, ethnische Gruppen, soziale Schichten oder Klassen, Gemeinschaften, Städte oder Unternehmensstrukturen. In jeder dieser sozialen Organisationsformen ist vielmehr ein Prozess der Dezentrierung oder Lockerung zu konstatieren. Auch diese Veränderungen bedeuten für den Einzelnen eine potenzielle Erweiterung seiner Handlungsspielräume.

Die hier skizzierten, die modernen Gesellschaften auszeichnenden soziostrukturellen Veränderungen, nämlich der gestiegene gesellschaftliche Wohlstand, der staatlich garantierte Grundrechtsschutz sowie die Schwächung der großen, das Verhalten normierenden Institutionen, sind im Rahmen der Schichtungstheorien unseres Erachtens bislang zu wenig berücksichtigt worden. Die existierenden Theorien sozialer Ungleichheit vertreten weiterhin die These einer engen Verbindung von Produktionsprozess und Ungleichheit, sowie der zentralen Bedeutung der sozialen Organisation und der materiellen Folgen des Produktionsprozesses für Familie, Generationen, Klassen und Individuen. Darüber hinaus gilt, dass die dominanten begrifflichen Kategorien der Ungleichheitstheorien Individuen und Gruppen als gefügige, passive Akteure darstellen, die sich oft nur als Opfer porträtiert sehen und sich in singuläre, eindeutige Strukturen sozialer Ungleichheit verstrickt finden, in Ungleichheitsstrukturen, die oft über Generationen hinweg dem Einzelnen, den Haushalten oder Familien ihren Rhythmus aufzwingen. Solange soziale Ungleichheit als eine weitgehend starre, eindimensionale Struktur aufgefasst wird, beschäftigten sich die mit ihr verbundenen theoretischen Reflexionen notwendigerweise vor allem mit Fragen der Kontrolle, der Subordination, der Abhängigkeit sowie der praktischen Ohnmacht oder Handlungsunfähigkeit der Mehrzahl der Gesellschaftsmitglieder angesichts der Herrschaft der Mächtigen.

Eine entscheidende Folge der skizzierten soziostrukturellen Veränderungen ist die Lockerung, zunehmende Komplexität und Zerbrechlichkeit moderner Sozialstrukturen sowie der Herrschaftsverlust der alten Institutionen. Dies führt auch zu neu gewonnenen Handlungskapazitäten bzw. zu einer potenziellen Erweiterung der Handlungsspielräume auf Seiten der Akteure, zu der Möglichkeit, dass eine größere Anzahl von Individuen und Gruppen die Fähigkeit hat, diese Strukturen in ihrem Sinn zu beeinflussen und zu reproduzieren.6 Wenn zentrale gesellschaftliche Institutionen an Macht einbüßen, alte Verhaltensmuster ihre Wirksamkeit verlieren und sich die Verhaltensmöglichkeiten multiplizieren, gewinnt Wissen als Handlungsressource und als Grundlage sozialer Ungleichheit an Bedeutung.

Wissen als ein Bündel sozialer Kompetenzen Um zu verstehen, wie sich Wissen als flexible und vielfältige Handlungsressource von den traditionellen, insbesondere materiellen Mitteln sozialer Stratifikation unterscheidet und selbst zur Grundlage sozialer Ungleichheit wird, ist es notwendig, Wissen als eine generalisierte Kompetenz zu konzipieren, die relativ unmittelbar soziale Vorteile bzw. Nachteile in der Form von Einfluss, Ansehen, Macht und Herrschaft mit sich bringt. Wissen repräsentiert ein allgemeines Bündel von sozialen Kompetenzen, wie etwa die Fähigkeit eines Akteurs, situationsadäquat zu handeln und zu sprechen und hieraus Vorteile zu ziehen (Bourdieu 1975: 19).7

Das Verhältnis von materiellen und kognitiven Faktoren sozialer Ungleichheit kehrt sich somit um. Wissen steuert und reguliert die materiellen Komponenten sozialer Ungleichheit. Selbst wenn man nur bereit ist zu konzedieren, dass Wissen eines von mehr oder weniger gleichwertigen Instrumenten sozialer Ungleichheit in der modernen Gesellschaft ist, muss man Wissen zumindest als eine Art »Meta«-Kompetenz begreifen, mit deren Hilfe gesellschaftlicher Einfluss realisiert werden kann, materielle Besitzstände erworben, verteidigt und vermehrt werden können. Wissen repräsentiert Handlungsfähigkeiten oder Handlungskompetenzen, die das Individuum vor den unmittelbaren Unsicherheiten des Marktes und vor Abhängigkeiten anderer Art schützen. Die Verlagerung des Fokus auf das Wissen bzw. auf wissensfundierte Kompetenzen offenbart ein neues Fundament sozialer Ungleichheit.8 Die vielfältigen Verteilungsmuster der Kompetenzen, ihre Substituierbarkeit und multiplen Kombinationen verschiedener wissensfundierter Kompetenzen sowie die immer wieder variierenden Anforderungen bringen es mit sich, dass die konkreten sozialen Unterschiede in der Wissensgesellschaft weniger kohärent, eindimensional, teilweise sogar weniger sichtbar sind als die Ungleichheitsstrukturen in der Industriegesellschaft. Ungleichheitsstrukturen in der Wissensgesellschaft sind sehr heterogene Figurationen und stark situationsspezifisch geprägte soziale Differenzierungen. Im Folgenden sollen die wichtigsten, die Struktur sozialer Ungleichheit beeinflussenden wissensfundierten Handlungskompetenzen kurz vorgestellt werden:

  1. Die Fähigkeit, Ermessensspielräume auszunutzen: Da weder sozial konstruierte Regeln, Normen und Standards alltäglichen und nichtalltäglichen Verhaltens, noch ihre gesellschaftlich vermittelte Implementation und Kontrolle äußerst selten ohne einen Ermessensspielraum bleiben, erlauben sie Interpretations- und Exekutionsmöglichkeiten, die sachverständige Akteure als Kapazität nutzen können, um sich in bestimmten Situation Vorteile zu verschaffen bzw. Nachteile zu vermeiden. Die Fähigkeit, Ermessensspielräume auszunutzen, verweist daher auf die Möglichkeit, sich einen komparativen Vorteil zu verschaffen, sei es auf dem Gebiet der Verkehrsregeln, der Steuergesetze, Investitionsmöglichkeiten, der beruflichen Karriere, der Ausbildung, der Einkommensverbesserungen usw.
  2. Die Möglichkeit, Schutz zu organisieren: Die symbolischen oder materiellen Kosten, die aus der Unfähigkeit entstehen, adäquaten Schutz zu organisieren, können erheblich sein. Schutzmaßnahmen ergreifen und Schutzvorrichtungen anbringen zu können, ist wiederum eine Frage der besonderen Kompetenz, die von Akteuren den Zugang zu Spezialwissen verlangt. Als Beispiel sei hier auf den Schutz des Eigentums vor struktureller oder unüblicher Entwertung verwiesen.
  3. Die Befähigung und Fertigkeit zu sprechen (vgl. auch Bourdieu 1975) basiert zunehmend auf dem Können, Wissen in relevanten Kontexten angemessen zu mobilisieren, und impliziert fast unmittelbar eine parallele soziale Abgrenzung denjenigen gegenüber, die nicht in der Lage sind zu sprechen. Diese Befähigung ist für viele Zusammenhänge und Situationen relevant und betrifft auch die Fähigkeit eines Laienpublikums oder eines einzelnen Laien, an einer Expertendiskussion als Redner teilzunehmen. Gleichzeitig wird das Unvermögen, mit Wissen umgehen zu können, ganz abgesehen von den stets mit unterschiedlicher Bildung verbundenen Mechanismen des Ausschließens oder Dazugehörens, zunehmend als ein Zeichen persönlichen Versagens interpretiert.
  4. Das Geschick, Widerstand zu mobilisieren, bildet eine wichtige Komponente des Stratifizierungspotentials von Wissen. Als Beispiel sei hier auf die unterschiedliche wissensfundierte Kompetenz von Individuen und Gruppen verwiesen, die Praktiken von Experten, des Staates oder von Korporationen zu kritisieren.
  5. Die Fähigkeit, etwas zu vermeiden oder auszuschließen, ist eine weitere stratifizierende Eigenschaft, die aufgrund unterschiedlicher Wissenskompetenzen mobilisiert werden kann. Gemeint sind Strategien, die garantieren, dass einige der Risiken der modernen Gesellschaft unterschiedlich verteilt werden, wie z. B. im Bereich der allgemeinen Sicherheit, bei der Konfrontation mit Konflikten oder Gewalttätigkeit und Gesundheitsrisiken.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das Bündel wissensfundierter sozialer Kompetenzen einen Zugang zu Handlungsressourcen ermöglicht, die es erlauben, zahlreiche Situationen im Leben zu meistern, wie etwa Fragen der persönlichen Gesundheit, des finanziellen Status, des Lebensstils, der beruflichen Karrierechancen, langfristiger materieller Sicherheiten usw. Ferner werden die Chancen von Individuen und Gruppen erhöht, Expertenmeinungen einzuholen, um diese Aufgaben zu lösen und damit den gesellschaftlich differenzierten Umgang mit relevanten Wissensformen zu erleichtern. Das Geschick, Widerstand zu mobilisieren, Ermessensspielräume auszunutzen oder Schutz zu organisieren, ist ein wichtiger Teil solcher Taktiken und Strategien und trägt wesentlich zur Herausbildung des Bewusstseins bei, dass man in der Tat in der Lage ist, soziale Situationen zu beherrschen, und nicht Opfer oder Spielball zufälliger Umstände wird.

III. Wissen und die »Entzauberung der Eliten« Um zu verstehen, was diese Bemerkungen über die Rolle des Wissens als Stratifikationsprinzip für die Formation von Eliten in der modernen Gesellschaft bedeuten, wollen wir uns zunächst kritisch mit zwei unseres Erachtens irrigen Thesen über den Zusammenhang von Wissen, Macht und Ungleichheit in der modernen Gesellschaft auseinandersetzen.

  1. Wissensfortschritt und Planbarkeit: Obgleich nicht mehr in dem Ausmaß wie noch in den 1950er und 1960er Jahren, erfreut sich bis heute die auf den Fortschrittsglauben der Aufklärung zurückgehende technokratische These gewisser Beliebtheit, dass Wissens- und Erkenntnisfortschritte Politik weitgehend überflüssig machen bzw. hierdurch politische Fragen zu reinen Sachfragen werden, die von Experten entschieden werden könnten und auch von Experten entschieden werden sollten. Überspitzt formuliert: In der Politik ersetze Wissenschaft und Sachverstand Ideologie. Exemplarisch sei in diesem Zusammenhang auf Robert Lane (1966: 657f.) verwiesen, der Mitte der 1960er Jahre zwei Bereiche unterschied; einen Bereich, in dem »decisions are determined by calculations of influence, power, or electorial advantage, and a domain of ›pure knowledge‹ where decisions are determined by calculations of how to implement agreed-upon values with rationality and efficiency, it appears to me that the political domain is shrinking and the knowledge domain is growing, in terms of criteria for deciding, kinds of counsel sought, evidence adduced, and the nature of the ›rationality‹ employed.« An diesen technokratischen Entwurf der zukünftigen Gesellschaft knüpfen sich sowohl Hoffnungen als auch Ängste. Technophile Optimisten und Anhänger der Wissenschaften verbinden hiermit die Hoffnung, die gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse – zumindest in ihrer bisherigen Form – würden durch Wissensfortschritte ein Ende finden. Menschen ordneten sich nicht mehr der Willkür anderer Menschen unter, sondern würden sich aufgrund von Einsicht Sachzwängen unterordnen. Pessimisten und Gegner der Wissenschaften sehen in der Akkumulation von Wissen die Gefahr, dass die Handlungsfähigkeit und die Möglichkeit des Menschen, Dinge zu gestalten, zu verändern und in Gang zu setzen, beschnitten werden könnte.
  2. Wissensfortschritt und Herrschaft: Auch einer zweiten weit verbreiteten Ansicht über das Verhältnis von Wissen und Herrschaft möchten wir an dieser Stelle entgegentreten; nämlich, der Vorstellung, dass Wissen immer nur den Mächtigen zufließt, dass Erkenntnisse stets verwendet werden, um Herrschaftsverhältnisse fortzuschreiben und zu festigen. Stellvertretend für diese Auffassung sei an Georg Simmel erinnert, der – wie übrigens später auch Daniel Bell – in seiner »Philosophie des Geldes« (1907/1989) argumentierte, dass die größere Bedeutung von Intellektualität und Bildung in der modernen Gesellschaft nicht, wie im Rahmen demokratischer Verheißungen oftmals postuliert, zu einer Überwindung der massiven sozialen Differenzen und somit zu mehr Gleichheit führt, sondern – im Gegenteil – gravierende und unverrückbare soziale Unterschiede hervorruft bzw. fortschreibt (vgl. Simmel 1907/1989; Bell 1973: 213).9 Durch Wissensfortschritte kommt es nach Simmel nicht zu einer Angleichung, sondern zu einer Verhärtung sozialer Unterschiede.10 Aus seinen Beobachtungen über die Folgen der Erkenntnisfortschritte und der Wissensakkumulation in modernen Gesellschaften kann man nur den Schluss ziehen, dass gerade in Gesellschaften, in denen Wissen zusehends in allen gesellschaftlichen Institutionen zur Grundlage und Richtschnur sozialen Verhaltens wird, die Unterschiede zwischen Eliten und Masse ausgeprägter und unüberbrückbarer sein werden.

Die erste These, nämlich dass eine Zunahme an Wissen und Sachverstand das Ende des Politischen bewirkt, erweist sich bei näherer Betrachtung als Illusion. Es gibt keinen linearen trade-off zwischen Wissenszuwachs und Abnahme »irrationaler« politischer Entscheidungen. Wissenschaftsfortschritte bedeuten nicht, dass man Politik leichter planen, vorhersagen und kontrollieren kann. Wissensfortschritte sind unter Umständen mit genau den entgegengesetzten gesellschaftlichen Entwicklungen verbunden und zwar mit einer wachsenden Fragilität der Gesellschaft (und der Natur). Wissenschaftsgläubige Anhänger missverstehen die Macht der rationalen Erkenntnis und der durch sie beförderten Rationalisierung der Gesellschaft.

Zugleich erweist sich die von vielen Autoren befürchtete Gefährdung des Potentials menschlicher Handlungsfähigkeiten durch die moderne Wissenschaft und Technik als Mythos. Diese Warnungen unterschätzen die genau entgegengesetzten gesellschaftlichen Folgen dieser Entwicklung. Die wachsende Verbreitung wissenschaftlichen Wissens und die zunehmende »knowledgeability« vieler Akteure kann eine Multiplikation menschlicher Handlungschancen und -bedingungen zur Folge haben, einschließlich des zunehmend intelligenten Widerstandes gegen die Wissenschaft und die Einführung neuer technischer Artefakte. Die dramatischen Folgen der Wissenschaft für die moderne Lebenswelt bedeuten zudem nicht, dass sich jedermann eine Art wissenschaftliche Weltanschauung zu eigen macht oder gezwungen ist, dies zu tun; dass die kognitiven Produkte der Wissenschaft – mittelbar oder unmittelbar – immer nur eine instrumentelle Rationalität haben; dass das alltägliche Denken mit dem wissenschaftlichen Denken identisch wird; dass politische Macht in zentralisierter und autoritärer Weise ausgeübt wird;11 dass es keine systematischen Grenzen und keine nennenswerten Hindernisse und Beschränkungen in der Realisierung und Implementierung von wissenschaftlichem Wissen gibt; dass die Realisierung von wissenschaftlichem und technischem Wissen in der Regel risikofrei ist und es nur wenige mit der Verwissenschaftlichung sozialen Handelns verbundene Gefahren gibt.

Der besondere Stellenwert von Wissenschaft und Technik für die moderne Gesellschaft bedeutet vielmehr, dass wissenschaftliches Wissen auf fast allen Gebieten des Lebens eine entscheidende Rolle spielt und der Grad unserer Abhängigkeit von Berufen, die mit Wissen »handeln«, umfassender wird. Darüber hinaus bedeutet der wachsende gesellschaftliche Einfluss wissenschaftlichen Wissens, dass auch traditionelle Wissensformen an Bedeutung zunehmen, die sich teilweise in Opposition zur Wissenschaft ausdrücken.

In Wissensgesellschaften lässt sich eine erhöhte Offenheit sozialen Handelns gegenüber Veränderungen beobachten, die von wissenschaftlichem Wissen und technischen Artefakten abhängen. Gleichzeitig gilt aber auch, dass soziale Verhaltensformen und Ideen in dieser Gesellschaftsformation gegen den Einfluss der Wissenschaft effektiver geschützt werden, indem sich die Bedingungen für die Möglichkeit solchen Widerstandes entscheidend verbessern. Die wachsende soziale und intellektuelle Bedeutung von Wissenschaft und Technik geht also entgegen den herkömmlichen Vorstellungen Hand in Hand mit einer erhöhten Kontingenz und Fragilität sozialen Handelns in der modernen Gesellschaft und nicht mit der endgültigen Überwindung der »Irrationalität« durch die von der Wissenschaft produzierte »Rationalität«. Beide Entwicklungen, die wachsende Transformation sozialer Bedingungen und Wertvorstellungen durch Wissenschaft und Technik sowie eine erhöhte soziale Kontingenz, sind Teil des Wandels der Industriegesellschaft in eine Wissensgesellschaft. Infolgedessen sind Wissensgesellschaften keineswegs Gesellschaftsformationen, wie man sie bis vor kurzem noch in den normativen Gesellschaftstheorien als Entwürfe eines »technischen Staates« oder einer »wissenschaftlich-technischen Zivilisation« antraf.

Auch die zweite These, dass Wissensfortschritte stets den Herrschenden nutzen und bestehende Machtverhältnisse festigen, hält einer Prüfung unseres Erachtens nicht stand. Im Gegensatz zur berühmten These Max Webers von der Herrschaft kraft Wissen in zentralen gesellschaftlichen Institutionen kommt es vielmehr zu einem Herrschaftsverlust kraft Wissen. Auf die Elitenformation in Wissensgesellschaften angewandt bedeutet dies, dass die zunehmende gesellschaftliche Abhängigkeit und Bedeutung von Wissen und Expertise mit einer zunehmenden Skepsis gegenüber intellektuellen Autoritäten einhergeht. Gerade der allgegenwärtige Wissensfortschritt, gerade die Tatsache, dass wissenschaftlichen Erkenntnissen heutzutage der Charakter des Vorläufigen, des prinzipiell Widerlegbaren, des Strittigen anhaftet, führt zu einer Art »Entzauberung der Eliten« in der Wissensgesellschaft (Weber 1919/1988: 594). Ihre Macht beruht nicht – wie in früheren Gesellschaftsformationen – auf geheimnisvollen und unberechenbaren Fähigkeiten oder Merkmalen, von denen bestimmte soziale Gruppen von vornherein ausgeschlossen sind. Vielmehr ist gerade in der Wissensgesellschaft die Vorstellung dominant, dass prinzipiell jeder Wissen erwerben könnte und prinzipiell jeder Teil der Wissenselite werden kann. Diese Vorstellung wiederum führt zu einer Schwächung der Elite, nimmt sie der Elite doch gerade die Aura des Erlesenen, des Ausgewählten, des für viele Nicht-Erreichbaren. Eliten in der Wissensgesellschaft sehen sich ständig der Gefahr ausgesetzt, ihre Entscheidungen rational begründen zu müssen. Dieser ständige Rationalisierungsdruck macht sie angreifbar, schwächt sie. Der Experte, der auf Wissen rekurriert, dessen Meinung prinzipiell überprüft und widerlegt werden kann, unterscheidet sich vom religiösen Führer, der seine Autorität unmittelbar auf Gott stützt, aber auch vom Aristokraten, der seine Anschauungen und Überzeugungen, wenn überhaupt, mit Verweisen auf Traditionen zu rechtfertigen sucht. Gerade durch den gesellschaftlichen Glauben an den Erkenntnisfortschritt sieht sich die herrschende Wissenselite zudem stets dem Verdacht ausgesetzt, alte Wissensbestände zu verteidigen, Neues nicht aufkommen zu lassen. In der Wissensgesellschaft ist der Experte stets ein Experte auf Abruf.

In dem Buch »The Spirit of Age« (1831), das John Stuart Mill nach seiner Rückkehr aus Frankreich, wo er die Ideen der Saint-Simonisten kennen gelernt hatte, in England veröffentlichte, unterstrich er seine grundsätzliche Überzeugung, dass ein gesellschaftlich-zivilisatorischer Fortschritt aufgrund einer Kultivierung und Steigerung zeitgenössischer intellektueller Erkenntnisse möglich sei. Die Möglichkeiten einer gesellschaftlichen Aufwärtsentwicklung und verbesserter sozialer Bedingungen sind aber nicht, wie Mill (1831/1942: 13) gleichfalls betont, Ergebnis einer Zunahme an »Weisheit« oder kollektiver Fortschritte in der Wissenschaft, sondern Resultat einer sehr viel umfassenderen sozialen Verbreitung des Wissens in der Gesellschaft: »Men may not reason better, concerning the great questions in which human nature is interested, but they reason more. Large subjects are discussed more, and longer, and by more minds. Discussion has penetrated deeper into society; and if greater numbers than before have attained the higher degree of intelligence, fewer grovel in the state of stupidity [...].« Die Hoffnungen auf eine bessere Gesellschaft, die Mill Mitte des 19. Jahrhunderts an eine umfassendere Verbreitung von Wissen und Bildung (und sei es nur »oberflächliches Wissen«), an die größeren Wahlmöglichkeit eines weiteren Teils der Bevölkerung sowie an deren Emanzipation von traditionellen Gewohnheiten knüpfte, stellen eine Verbindung her zur Idee der modernen Gesellschaft als Wissensgesellschaft; insbesondere zu der in Wissensgesellschaften herrschenden Machtverteilung, dem Ungleichheitsregime, sowie der Rolle der großen Institutionen und der Formation und dem Einfluss von Eliten. Im Gegensatz zu den bereits erwähnten Thesen von Simmel und Bell kommt es zwar zu einer wachsenden Anhäufung von Erkenntnissen in modernen Gesellschaften, aber nicht gleichzeitig zu ihrer Verdichtung, nicht dazu, dass die Früchte neuer Erkenntnisse gleichsam automatisch den Mächtigen zufließen. Vielmehr scheint sich Mills Hoffnung zu erfüllen, dass in den modernen Gesellschaften Wissen nicht nur akkumuliert, sondern auch »demokratisiert « und verbreitet wird. Die Grundlage dafür, dass Akteure in Wissensgesellschaften zwar nicht unbedingt besser, aber zumindest häufiger, in größerer Zahl und intensiver »nachdenken«, manifestiert sich vorrangig in der Bildungsexpansion in modernen Gesellschaften. So hat sich heute, um nur eine Zahl zu nennen, im Vergleich zum Jahre 1952 die relative Chance, ins Gymnasium zu wechseln, mehr als verdreifacht.

Die Veränderung im Umfang und in der Effektivität der Handlungsressourcen, die dem Einzelnen oder kleinen Gruppen zur Verfügung stehen, hat sich in den letzten 50 Jahren bemerkenswert erhöht. Da diese Ressourcen in Konflikten und Auseinandersetzungen mit korporativen Akteuren nicht unbedingt symmetrisch sein müssen, reicht oft schon eine relativ geringe Ausweitung der Handlungsmöglichkeiten vormals besonders benachteiligter Akteure aus, damit diese ihre Interessen besser vertreten können. Wie etwa Dorothy Nelkin (1975: 53-54) in einer Studie der konkurrierenden Verwendung von technischem Fachwissen in zwei kontroversen politischen Entscheidungen in den Vereinigten Staaten – es ging um den Ausbau eines großen Flughafens und die Errichtung eines Atomkraftwerks – exemplarisch gezeigt hat, müssen diejenigen, die gegen eine bestimmte Entscheidung opponieren, nicht unbedingt »gleichwertige Beweismittel« (»muster equal evidence«) vorlegen. Das heißt, in politischen und juristischen Auseinandersetzungen reicht es häufig aus, »to raise questions that will undermine the expertise of a developer whose power and legitimacy rests on his monopoly of knowledge claims or claims of special expertise.«

Die wachsende Kontingenz sozialen Handelns und die Einsicht in die zunehmende Beeinflussbarkeit sozialer Handlungszusammenhänge im Bewusstsein vieler Akteure ist, so unsere These, Ergebnis der umfassenderen Verfügbarkeit reflexiven Wissens über die Besonderheiten der sozialen Wirklichkeit und der Natur sowie des vertieften Verständnisses, dass sowohl die soziale Wirklichkeit als auch die Natur durch unser Handeln verändert werden können. Die Folgen der wachsenden Kontingenz sind allerdings nicht identisch mit den vielfältigen, dringlichen Warnungen vor den Konsequenzen einer verselbständigten Technik und Wissenschaft. Im Gegenteil, die verbreitete Verfügungsgewalt über reflexives Wissen reduziert die Kapazität der traditionellen Kontrollinstanzen der Gesellschaft, Disziplin und Konformität einzufordern und durchzusetzen. Die Ressourcen, um Gegendruck, Widerrede und Protest auszuüben, haben sich überproportional erhöht. Es kommt zu einem Herrschaftsverlust kraft Wissen der großen gesellschaftlichen Institutionen der modernen Gesellschaft, also von Staat, Wirtschaft, Wissenschaft, Kirche. Man kann etwa einen auffallenden Verlust der Furcht und der Achtung großer Teile der Bevölkerung vor diesen Institutionen, insbesondere aber in Beziehungen mit staatlich-administrativen Autoritäten, konstatieren. Diese Veränderungen wiederum manifestieren sich in einem sich wandelnden Selbstbewusstsein in der Bevölkerung.

Ziel dieser Ausführungen war es, zu zeigen, dass unser bisher vorherrschendes theoretisches Verständnis von sozialer Stratifikation, Macht und Elite an eine bestimmte Gesellschaftstheorie gekoppelt ist. Da die Industriegesellschaft sich jedoch im Westen dem Ende zuneigt und eine neue Gesellschaftsformation, die Wissensgesellschaft, im Entstehen begriffen ist, scheint es notwendig, die Grundlagen sozialer Ungleichheit und die Existenz und Rolle von Eliten neu zu überdenken. Im Zuge unserer Untersuchung haben wir versucht, den – auf den ersten Blick vielleicht paradox anmutenden – Nachweis zu erbringen, dass die zunehmende gesellschaftliche Bedeutung und Abhängigkeit von Wissen mit dem Verlust und der Zerbrechlichkeit der Autorität der Wissensträger und Experten, mit der »Entzauberung der Wissenselite« einhergeht.

Jegyzetek

* Dieser Text entstand unter Bezugnahme auf eine Reihe von Veröffentlichungen, in denen der Versuch unternommen wurde, eine Theorie der modernen Gesellschaft als Wissensgesellschaft auszuarbeiten (vgl. z. B. Stehr 1994; 2000). Deutschlands Eliten im Wandel, hrsg. von Herfried Münkler, Grit Straßenberger und Matthias Bohlender. Frankfurt a. M./New York: Campus 2006.

1 Reinhard Kreckel (1983: 7) listet folgende neue Formen sozialer Ungleichheit auf: »geschlechtsspezifische Ungleichheiten, die regionalen Disparitäten, die Benachteiligungen von Minderheiten und sozialen Randgruppen, die Ungleichverteilung der Wohlfahrtsteilhabe und des Zuganges zu öffentlichen Gütern, die Ungleichgewichtigkeit von sozialen Lasten, die periphere Lage der sogenannten Gastarbeiter sowie die Abhängigkeiten und Ungleichgewichte im Weltmaßstab«.

2 Natürlich hat Wissen im menschlichen Zusammenleben stets einen zentralen Stellenwert eingenommen. Soziales Handeln, soziale Interaktionen oder soziale Rollen sind wissensgeleitet. Soziale Gruppierungen sind nicht bloß Herdenbildungen, sondern symbolisch vermittelt, das heißt, sie beruhen auf Wissen. Im Sinne der philosophischen Anthropologie ließe sich Wissen als ein Kompensationsmechanismus verstehen, auf den der Mensch als instinktarmes Mängelwesen angewiesen ist. Man kann demnach Wissen geradezu als eine anthropologische Konstante bezeichnen. Trotz dieser anthropologischen Dimension von Wissen lassen sich, wie im vorigen Abschnitt skizziert wurde, die modernen Gesellschaften als Wissensgesellschaften charakterisieren und von früheren Gesellschaftsformationen, insbesondere auch von Industriegesellschaften, unterscheiden.

3 Unschwer lassen sich weitere Faktoren identifizieren, die Teil der gleichen gesellschaftlichen Figuration sind und dazu beitragen, dass sich die zentrale gesellschaftliche Bedeutung von Arbeit vermindert bzw. jene von Wissen wächst. Dazu gehören z. B. die generelle Arbeitszeitverkürzung und der erhebliche Anstieg der Arbeitseinkommen, die einerseits die Freiheit und Autonomie erhöhen, außerhalb der Arbeitssituation Lebensinteressen zu verfolgen, und andererseits den marginalen Nutzen von Gehaltserhöhungen erheblich tangieren (vgl. Kern/Schumann 1983).

4 Stephen Kalberg (1992) hat darauf aufmerksam gemacht, dass die Abkoppelung der Arbeit vom sozialen Status in der modernen Gesellschaft oder von Debatten über die Rolle der Arbeit in der postindustriellen Gesellschaft stark von nationalen, politischen und historischen Besonderheiten oder, wie er es nennt, lokalen Milieus, geprägt ist. In Deutschland erfreuen sich berufsbezogene Werte und Leistungen nicht unbedingt eines höheren Rangs als die anderer sozialer Kontexte (wie z.B. Freizeit und Privatsphäre), während in den Vereinigten Staaten die gesellschaftliche Zentralität der Arbeit ungebrochen ist. Daraus folgt für Kalberg, dass der gesellschaftliche Stellenwert der Arbeit in beiden Gesellschaft erheblich voneinander abweicht. Es fällt auf, dass sich Kalberg nicht auf die Ergebnisse von Robert Dubins komparativen Forschungen bezieht, in denen er die Frage nach der Rolle von Arbeit als zentralem Lebensinhalt (central life interest; Dubin 1992: 123–124) formuliert hat. Dubins Thesen und empirische Forschungen haben in den letzten Jahrzehnten eine Vielzahl von Untersuchungen ausgelöst, in denen versucht wird zu zeigen, dass der Bedeutungsgehalt der Arbeit mit der Berufsposition (man vergleiche z. B. Manager mit Industriearbeitern) und Gesellschaft (z.B. Japan und die USA) variiert. Dubins (1956) ursprüngliche Forschungsarbeiten in den USA zeigten, dass nur 24 Prozent der von ihm befragten Industriearbeiter ihre Arbeit als zentralen Lebensinhalt empfanden.

5 Dies bedingt keineswegs das Verschwinden ökonomisch oder sozial schutzbedürftiger Gruppen der Bevölkerung oder sogar einer Unterklasse. Tatsächlich können sich die Benachteiligungen dieser Gruppen verstärken.

6 Dass diese potenzielle Erweiterung des Handlungsspielraumes oftmals mit dem Verlust an Handlungssicherheit einhergeht und auf Seiten der Individuen zu einer bewussten Negation der erweiterten Handlungsmöglichkeiten führen kann, sei hier nur angemerkt.

7 In einem anderen Zusammenhang beschreibt Jean-François Lyotard (1979/1986: 65) die sozialen Eigenschaften des Wissens in ähnlicher Weise. Lyotard betont, dass sich die Rolle des Wissens in postmodernen Gesellschaften nicht vorrangig auf das wissenschaftliche, das heißt instrumentelle Wissen bezieht. Wissen fällt vielmehr mit einer »umfassenden ›Bildung‹ von Kompetenz zusammen: Es ist die einzige in einem Subjekt verkörperte Form, das aus verschiedenen Arten von es konstituierender Kompetenz zusammengesetzt ist«.

8 In der Betonung von Wissen als zentraler Komponente der sozialen Ungleichheit drückt sich auch die Tatsache aus, dass seine Voraussetzungen und Folgen in der Praxis weniger eindeutig, unstrittig und explizit sind, als dies noch für die herkömmlichen Schichtungsvariablen wie z. B. Einkommen, Beruf und formaler Bildung der Fall war. Mit Wissen sind somit weniger definitive Schichtungsstrukturen und -konturen verbunden.

9 Wie Georg Simmel (1907/1989: 606f.) betont: »Da nun die Inhalte der Bildung – trotz oder wegen ihres allgemeinen Sich-Darbietens – schließlich nur durch individuelle Aktivität angeeignet werden, so erzeugen sie die unangreifbarste, weil ungreifbarste Aristokratie, einen Unterschied zwischen Hoch und Niedrig, der nicht wie ein ökonomisch-sozialer durch ein Dekret oder eine Revolution auszulöschen ist, und auch nicht durch den guten Willen der Betreffenden.«

10 Simmel (1907/1989: 607) spezifiziert und illustriert seinen Schluss über die Verhärtung der sozialen Differenz zwischen Hoch und Niedrig auf Grund von Erkenntnisfortschritten wie folgt: »[D]er intellektuell beanlagte oder materiell sorgenfreierer Mensch wird um so mehr Chancen haben, über die Masse hinauszuragen, je größer und zusammengedrängter der vorliegende Bildungsstoff ist.«

11 Man beachte etwa die in der Diskussion der Möglichkeit technokratischer Herrschaft immer wieder geäußerten Befürchtungen vor einem politischen oder ökonomischen Herrschaftsmonopol auf Wissensbasis: McDermott (1969) z. B. reagiert auf die Aussage, dass wissenschaftliches Wissen in den Vereinigten Staaten zu einer zunehmend wichtigeren gesellschaftlichen Macht wird, mit der Beobachtung und eindringlichen Warnung, dieses Wissen werde sich in Großkonzernen konzentrieren und unweigerlich zu einer erheblichen Reduktion der Fähigkeit des Durchschnittsamerikaners führen, die Entwicklung seiner Gesellschaft und ihrer wichtigsten Institutionen beeinflussen zu können.

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