Jean-Claude Wolf

Welche Natur?1

Die Bezugnahme auf Natur ist allgegenwärtig – fast so allgegenwärtig wie die Natur selber, im Sinne eines Sammelbegriffes für alles, was der Fall ist. Steht Natur für das, was es gibt, was der Fall ist oder was irgendwie existiert, so eignet sich die Bezugnahme auf Natur nicht als unterscheidende Orientierung. Nur wenn Natur als Oppositionsbegriff zu einem Bereich verstanden wird, erhält sie ein Profil, das als Unterscheidungsmerkmal dienen kann, etwa Natur und Geist, Natur und Kultur, Natur und Artefakt usw.

Der Titel „Welche Natur?“ lädt ein zu einer breit angelegten Kultur- und Begriffsgeschichte, zu einem Diskursfeld, auf dem sich, wie etwa der Religionswissenschaftler Kocku von Stuckrad gezeigt hat, eine Geschichte der nicht-christlichen Religionen in Europa seit dem Renaissance-Pantheismus von Giordano Bruno über Spinoza und die romantische Naturphilosophie bis zum Vitalismus, Esoterismus der Wende vom 19. zum 20 Jahrhundert nachzeichnen läßt, der über die Tiefenökologie zu den Denkfiguren des New Age und des Neoschamanismus führt. Stuckrad hat nicht nur dokumentiert, wie diese Subkultur einer nicht-christlichen und nachchristlichen, wissenschaftskritischen und doch immer wieder wissenschaftsnahen Tradition im Diskursfeld Natur nahezu lückenlos verläuft, sondern auch dargelegt, daß sie über eine hohe Suggestivkraft verfügt, aus der sich z.B. die Polemik in Goethes Farbenlehre gegen Newtons Mechanik speist und eine qualitative und teleologische Naturdeutung als Alternative zur Wissenschaft oder als alternative Wissenschaft anbietet. Selbst in der Evolutionstheorie von Darwin, Huxley und Spencer spielt die ästhetische und quasi-religiöse Verehrung der tiefen Zweckmäßigkeit in der Natur eine bemerkenswerte Rolle, auch wenn sich der Darwinismus und seine Anhänger zu einem „design“ ohne „designer“ bekennen. Die Welt ist – in dieser quasi-telologischen Deutung und in Nietzsches Worten – ein gigantisches Kunstwerk ohne Künstler. (Vgl. Jordan 2006) Diese von der Naturforschung abgeleitete und popularisierte Naturauffassung, wie sie sich in den Schriften und insbesondere in den wunderbaren Zeichnungen und Illustrationen von Ernst Haeckels „Natürlicher Schöpfungsgeschichte“ findet, hat sich als Inspirationsquelle für die Kunst des fin de siècle erwiesen, beispielsweise in den Esquisses décoratives von René Binet, die von 1902 und 1903 in vier Teilen publiziert wurden und die Naturornamentik der Architektur aus dem Geist und Design einer evolutionären Morphologie ableiten. Die Erhabenheit der Natur zeigt sich nicht nur in der unendlichen Größe, sondern auch in der „Sorgfalt im unendlich Kleinen“; sie bildet den Hintergrund zu einer ökologischen Ästhetik. (Vgl. Treptow 2001)

Wenn wir wissen wollen, von welcher Natur die Rede ist, genügt es oft, den Oppositionsbegriff zu kennen. Eine beliebte Gegenüberstellung ist jene von Mensch und Natur. Gemeint ist das Wesen des Menschen, sofern es sich vom Rest der Welt unterscheidet, insbesondere von den ihm nahe stehenden Tieren. Meist wird das Wesen des Menschen charakterisiert durch das, was ihn von den Tieren unterscheidet. Die Natur des Menschen ist gerade nicht die Natur, sondern seine Nicht-Natur (als Geist), Gegennatur (als Meister der Affekte) oder Über-Natur.

Die Erwähnung von Tieren dient in der Tradition der Philosophie und der Religionen hauptsächlich zur Spiegelung des Menschen, sei es zur Positiv-Spiegelung dessen, was Menschen über „das Tier“ erhebt, sei es zur Negativ-Spiegelung dessen, was ihn zur Bestie erniedrigt, z.B. seine Grausamkeit. Diese Spiegelungen des Menschen in den Tieremblemen findet man in der literarischen Gattungstradition des „Physiologus“, aber auch in den Tierbetrachtungen der mittelalterlichen Medizin, z.B. im Buch von den Fischen und im Buch von den Tieren der Hildegard von Bingen. (Vgl. Bingen 1991 und 1996) Diese Spiegelung des Menschen in den Tieren findet sich in allen religiösen Traditionen, auch in der hinduistischen Tradition, die den Tieren näher zu stehen scheint als die jüdische, christliche und islamische. Mit Tierschutz hat die Tierfabel nichts zu tun. Folgende Verse stehen im „Pancatantra“.

 

Die Papageien sperrt man in den Käfig,
Weil sie sich gern geschwätzig zeigen,
Den Reihern läßt man ihre Ruhe:
Ja, Reden ist gefährlicher als Schweigen. (Glasenapp 1953, 77)

 

Sicherlich trägt die einseitige spirituelle Ausrichtung das Ihre dazu bei, daß Tiere nicht als reale Lebewesen, sondern als Seelenbilder und Gleichnisse in Erscheinung treten. Doch auch eine nüchterne und empiristische Sichtweise ist nicht davor gefeit, Tiere schematisch und emblematisch darzustellen. Selbst Empiristen, welche der Möglichkeit einer a priori Erkenntnis des menschlichen Wesens skeptisch gegenüberstehen, haben den Tier-Mensch-Vergleich dazu benutzt, um die Natur des Menschen zu definieren. So steht es für einen Empiristen wie z.B. John Stuart Mill fest, daß alle Menschen von Natur aus nach Lust streben und Unlust vermeiden. Weiter glaubt Mill – wohl auch als Resultat von Beobachtung und Induktion – feststellen zu können, daß sich diese hedonistische Ausrichtung als Zweckorientierung in der menschlichen und – über unsere Spezies hinaus – in der nicht-menschlichen Natur aller empfindungsfähigen Wesen niederschlägt. So ablehnend Mill gegenüber der Bezugnahme auf Natur als Norm ist, so optimistisch ist er bezüglich der Verallgemeinerung bezüglich der hedonistischen Teleologie der empfindungsfähigen Wesen. Dieser Optimismus ist nicht nur im Anspruch auf eine generelle Erkennbarkeit begründet, sondern auch in der Hoffnung, daß die Ethik und andere kulturelle Errungenschaften dazu dienen werden, die hedonistische Gesamtbilanz positiv zu gestalten, nämlich zugunsten einer positiven Nettobilanz der Lust. Dieses hedonistische Fortschrittsgedanke unterscheidet Autoren wie Auguste Comte und Mill von Kant und der Schopenhauerschen Schule, welche die negative hedonistische Bilanz nicht nur als beweisbare Tatsache betrachten, sondern geradezu als ethisches Postulat, daß in den Worten Eduard von Hartmanns dazu diene, den „Bankerott des Egoismus“ zu beschleunigen und die reinen Beweggründe der Sittlichkeit zu stärken. (Vgl. Hartmann 1908, 112; 1924, 57-65)

Der Utilitarismus Millscher Prägung unterscheidet sich wohltuend von diesem Reinheitspathos der deutschen Philosophen. In der Ethik ist Mill jedoch kein reiner Empirist, sondern er stützt sich auf Gedanken, welche dem Repertoire einer essentialistischen Metaphysik entstammen, insbesondere der von Platon und andere antiken Philosophen inaugurierten Unterscheidung zwischen sog. niedrigeren und höheren Freuden („higher and lower pleasures“) und der schroffen Gegenüberstellung von Mensch und Natur, menschlichem und animalischem Wesen. Die einschlägigen Mill-Zitate gehören inzwischen zur gehobenen Allgemeinbildung.

„It is better to be a human being dissatisfied than a pig satisfied; better to be Socrates dissatisfied than a fool satisfied. And if the fool, or the pig, are of a different opinion, it is because they only know their own side of the question. The other party to the comparison knows both sides.“ (Mill, Utilitarianism II, 6)

Diese und ähnliche Zitate verleugnen den Geist des Empirismus in zweierlei Hinsicht: Zum einen fahren sie damit fort, Tiere als Allegorien und Embleme für seelische Konstellationen des Menschen zu thematisieren, ohne diese projektiven Illustrationen mit den Beobachtungen der modernen Biologie zu konfrontieren – es ist kein Zufall, daß im Vergleich mit Sokrates von den Freuden eines Schweines, nicht von seinem reichen Verhaltensrepertoir und seinen sozialen Fähigkeiten die Rede ist – ebenso wenig wie von den Freuden eines seine Jungen schützenden Alligators oder eines fliegenden Kondors; zum anderen verquicken Mills Tier-Mensch-Vergleiche die Unterscheidung von sensorischen und geistigen Freuden mit einem Wertmaßstab, der scheinbar der Natur selber und ihrem Entwicklungsfortschritt entnommen zu sein scheint. Dabei begeht Mill weniger den ihm von Moore vorgeworfenen „naturalistischen Fehlschluß“, sondern vielmehr einen typischen evolutionistischen Fehlschluß, der besagt: Was in der Evolution später ist und auf einer früheren Entwicklungsstufe aufbaut, ist auch wertmässig höher und objektiv kostbarer. So scheint die Freude am Schachspielen höher zu sein als die „animalische Lust“, weil sie auf einfachen Wahrnehmungen aufbaut und höhere intellektuelle Fähigkeiten voraussetzt und steigert. Die Rede von Entwicklungsstufen suggeriert ein hierarchisches Bild, in dem das Spätere das Obere ist, doch die Tatsache, daß die Stufe S2 jene von S1 voraussetzt, besagt nicht, daß S2 einen höheren Wert repräsentiert.

Mill glaubte, mit seinem qualitativen Hedonismus den quantitativen Hedonismus verbessern zu können, doch er hat ihn verschlechtert. Daß es den Unterschied zwischen sensorischen und geistigen Freunde gibt, ist zwar unbestreitbar (vgl. Feldman 2004), doch daß dieser Unterschied mit einem stabilen Wertunterschied behaftet sei, vermag Mill nicht besser zu erläutern als durch die zirkuläre Argumentation, daß dies kompetente Beurteiler so beurteilten. Darin liegt das Eingeständnis, daß es – außer der „Intuition der Weisen“ – kein Kriterium gibt, um höhere von niedrigeren Werten zu unterscheiden. (Vgl. Wolf 1992, 1993, 1996) Der Hedonismus wird durch die Einführung des qualitativen Wertunterschieds zwischen verschiedenen Arten von Freuden auch dadurch verschlechtert, als der Vergleich und das Berechnen von Freuden noch unbestimmter wird. So ist es z.B. unplausibel anzunehmen, eine geringe Intensität von geistigen Freuden lasse sich durch keine beliebig große Intensität von sensorischen Freuden aufwägen.

Eduard von Hartmann hat diese Schwäche von Mills qualitativem Hedonismus richtig charakterisiert. Nach Hartmann gibt es keine absolute Priorität der sog. „höheren Lüste“ über die „niedrigeren Lüste“.

„Für den Weltprozess wertvoller und darum edler mag eine geringe geistige Lust sein als eine große sinnliche; aber bei der Lustabwägung muß die große sinnliche Lust schwerer ins Gewicht fallen als eine geringe geistige, wenn nicht das Ergebnis gefälscht werden soll.“ (Hartmann 1908, 38.

Eine subtilere Apologie des Hedonismus besagt, daß Lust in Verbindung mit anderen Werten (wie z.B. Wahrheit oder Verdienst) eine organische Einheit bilden kann: Lust in Verbindung mit Wahrheit hat einen höheren Wert, obwohl Wahrheit in Isolation für den Hedonisten keinen Wert haben kann. Diese Argumentation, die von Fred Feldman diskutiert wird, setzt sich dem Verdacht aus, daß ein um andere Werte angereicherter Hedonismus kein reiner Hedonismus sei, sondern ein versteckter Wertpluralismus. Wie auch immer man die Rettungsversuche zeitgenössischer Hedonisten beurteilen mag: Es ist ihnen zumindest gelungen, einige der geläufigen Vorurteile gegen den Hedonismus zu entkräften.

Die Zuordnung der Lust zum Tierischen gehört zu den Platitüden der Ideengeschichte und zu den geläufigen Vorurteilen gegen den Hedonismus. Die Lust, so heißt es von prominenter Seite, würde den ersten Rang im Rangstreit der Güter erhalten, wenn Tiere darüber abstimmen könnten. Die Stelle findet sich am Schluß von Platons Philebos. Damit wird der Primat der Lust den Tieren zugewiesen. Selbst im modifizierten Hedonismus, wie er auch bei Platon gelegentlich angedeutet (vgl. z.B. Politeia 580c – 581a) und im 19. Jahrhundert von John Stuart Mill vertreten wird, werden die sog. „lower pleasures“ den animalischen Freuden zugeordnet. Hier tritt die hierarchische Ordnung innerhalb der Lust selber auf. Nun werden die Freuden des Sokrates jenen eines Toren, die Freuden des Menschen jenen des Schweines gegenübergestellt. „lower pleasures“ und „lower animals“ stehen in exakter Korrelation. (Vgl. Mill 1969/1861, 211ff.; Wolf 1992, 48ff.) Gemeint sind die einfacheren sensorischen Freuden und die an höhere intellektuelle Fähigkeiten geknüpften Freuden. (Eine dritte und mittlere Kategorie, jene der perzeptiven Freuden, wird nicht erwähnt, obwohl sie bereits bei Aristoteles zu Beginn seiner Metaphysik erwähnt werden und für die Phänomenologie der Freuden eine wichtige Rolle spielen. Zur Bedeutung des Naturbegriffs von Aristoteles für die Ethik vgl. Müller 2006)

Könnte eine teleologische Auffassung der Natur auch zur Begründung der moralischen Rücksichten auf Tiere etwas beitragen? Eine pantheistische oder teleologische Vision könnte bezüglich der Bewertung darauf hinauslaufen, daß alle Teile der Natur einen gleichen Wert haben – oder gleichermaßen gar keinen. Entweder wird jedes Individuum aufgewertet, sofern es seinen Zweck in sich selber hat (z.B. im conatus nach Selbsterhaltung oder Lust), oder es wird abgewertet, so fern es seinen Zweck außer sich hat, nämlich darin, Teil eines größeren Ganzen zu sein und mit seinem Tod eine restitutio in integrum zu erfahren. (Dramatisch gesagt könnte man sagen, daß die natura naturata am Ende der Zeit von der natura naturans aufgefressen wird.) Nach beiden Seiten betrachtet – der Wesensautonomie und der radikalen Abhängigkeit – hätten wir es mit einer strikt egalitaristischen Auffassung zu tun, die keine Individuen oder Teile von Individuen privilegiert. Damit wäre kaum etwas gewonnen, sieht man einmal ab von der Ablehnung einer objektiven Werthierarchie. Historisch betrachtet ist aber die teleologische Auffassung meist mit einer Wertung der Stufen des Organischen verbunden. Teleologie heißt nicht nur, daß alle Dinge oder Wesen einen Zweck haben oder Zwecke verfolgen, sondern auch, daß die „höheren Wesen“ auch Zwecke der „Niedrigeren“ sind.

Geht man (wie ich meine ohne hinreichenden Grund) davon aus, daß der Wert von Tieren geringer ist als jener von Menschen, so liegt es auch nahe zu glauben, der von ihnen einhellig bevorzugte Wert sei niedriger als jener Wert, den ein Gremium weiser Menschen („competent judges“ Mill) einhellig wählen würde, nämlich nach Mill die „higher pleasures“, nach Platon den Wert des Guten als des metron, der sogar über dem Wert des nous bzw. der phronesis steht. (Auch Platon bezieht sich wie Mill auf einen Konsensus der weisen Männer, allerdings um die Herrlichkeit der Vernunft zu bestätigen. Vgl. Philebos 28c.) Das metron deutet die Übereinstimmung mit dem Göttlichen an (vgl. Nomoi 716c-d) und bezeichnet die göttliche Seite des Menschen, die seiner tierischen Seite überlegen ist. (Teilhabe an der göttlichen Vernunft wird somit den Tieren abgesprochen. Tiere haben keine Metaphysik und keine Religion!)

Die klassische Begründung der Abwertung der Lust besteht darin, daß sie zu jenen Dingen oder Gütern gezählt wird, die uns mit den Tieren gemeinsam sind. Was uns mit den Tieren gemeinsam ist, kann nicht die für die Menschen charakteristische und einmalige Exzellenz ausmachen. (Daß es eine solche Exzellenz gibt, wird stillschweigend angenommen.) Die Hintergrundannahme dieser klassischen Begründung besteht in einer objektiven Werthierarchie, in der Pflanzen ganz unten, Tiere in der Mitte und Menschen (durch ihre Vernunftfähigkeit) oben rangieren, nämlich zwischen Tieren und Göttern. Die Annahme einer solchen objektiven Werthierarchie ist letztlich nicht mehr weiter begründet. Sie spiegelt vielmehr eine anthropozentrische, letztlich theozentrische Sichtweise, welche alles Seiende außer dem Göttlichen bloß als Mittel zum höchsten Zweck betrachtet. Diese Auffassung läßt sich leicht übersetzen in das vulgäre teleologische Weltbild, dem gemäß die Pflanzen Nahrungsmittel der Tiere und die Tiere Nahrungsmittel der Menschen sind und sein sollen. Die natürliche Nahrungskette wird zur Norm menschlichen Handelns erhoben. (Man stelle sich eine Argumentation entlang der natürlichen Nahrungskette vor, in der nicht die Menschen, sondern hyperintelligente, aber gefräßige Dämonen oder extraterrestrische Wesen an oberster Stelle rangierten ...)

Ebenfalls problematisch ist der bereits erwähnte evolutionistische Fehlschluß, der besagt: ‚Höher entwickelt‘ bedeutet ‚höherwertig‘. Weil die geistigen Freuden an höher entwickelte kognitive Fähigkeiten gebunden sind, sind sie auch höherwertig. Dieser Fehlschluß sollte vermieden werden. Aus dem ‚später‘ oder ‚differenzierter‘ in Begriffen der Evolution folgt logisch kein ‚höherwertig‘ in Begriffen einer allgemeinen und unanfechtbaren Werttheorie. Selbst im Blick auf die immanenten Standards der Evolutionstheorie, nämlich im Blick auf die sog. „fittingness“, deckt sich ‚fitter‘ keineswegs mit ‚evolutionär später‘ bzw. ‚differenzierter‘. Gewisse urtümliche und relativ undifferenzierte Organismen sind zum Teil viel anpassungsfähiger und reproduktionsmächtiger als ihre differenzierteren evolutionären Nachfahren. Vielfalt und Biodiversität mag zwar ein gewisser „Erfolg“ der Evolution sein, sie bilden aber keine Garantie für bessere Überlebenschancen von Gattungen und Individuen.

Wir haben die Tendenz, uns (und unsere eigene Spezies) als Mittelpunkt des Universums zu fühlen, und wir haben die Fähigkeit der Empathie, mit der wir uns in manche Tiere und ihren Standpunkt versetzen und nachempfinden können, daß auch ein Löwe oder eine Katze sich als Mittelpunkt der Welt fühlen. Die Fähigkeit zum imaginären Standpunktwechsel korrigiert die erste Tendenz, alles nur von unserem Standpunkt aus zu betrachten und zu beurteilen, ohne sie völlig aufzuheben. Ob es allerdings möglich ist, vom Standpunkt der Natur oder im Interesse der Natur zu denken und zu handeln, ist umstritten. (Vgl. Varner 1998)

Aus der Sicht einer neuzeitlichen Anthropologie, die von Johann Gottfried Herder und Arnold Gehlen (vgl. Gehlen 1940) inspiriert ist, ließe sich der Vorzug der Vernunft und des Maßes im menschlichen Leben anders begründen. Lust hat bei Tieren einen hohen, quasi unfehlbaren Orientierungswert, weil sie mit sicheren Instinkten ausgestattet sind, welche das Luststreben und das Vermeiden von Unlust harmonisch mit dem Überlebensinstinkt verbinden. Menschen dagegen sind biologisch betrachtet Mängelwesen, die sich unter anderem durch Instinktunsicherheit und eine in der Kindheit verlängerte Gefühlsabhängigkeit ausweisen. Das („maßlose“) Luststreben und der Überlebensinstinkt bewegen sich auseinander. (Vgl. Hartmann 1908, 22, 63) Dies ist die Grundlage der viel beschworenen „Tragödie der Kultur“, die knapp formuliert darin besteht, daß Kultur nur möglich ist auf der Basis der Verschiebung und des Verzichts von unmittelbarer Triebbefriedigung. Das Streben nach sexueller Lust ist das Resultat einer „List der Natur“ zur Erhaltung der Gattung, aber kein solider Maßstab: Was mehr Lust bringt, koïnzidiert im Einzelfall nicht mit dem, was Überlebenschancen verbessert. Die optimale Befriedigung der Lust an Süßigkeiten ist kein geeignetes Mittel zur Verbesserung von „fitness“. Luststreben kann dysfunktional sein, d.h. der Erhaltung des Individuums und der Gattung nichts nützen oder sogar schaden. In der Menschheitsentwicklung tritt eine Disposition zur Maßlosigkeit und Desorientierung der Instinkte auf, insbesondere im Suchen nach Lust. Der natürliche Hedonismus wird bei den Menschen tendenziell exzessiv, zum Teil sogar selbstzerstörerisch, wie viele Formen des Drogenmissbrauchs drastisch illustrieren. Um diese natürlichen Mängel zu kompensieren, ist der Mensch in höherem Masse auf Korrekturen durch Erziehung, Kultur und Verstandesgebrauch angewiesen. Die entwickeltere Vernunft des Menschen ist kein Indiz dafür, daß der Mensch mehr wert ist als die Tiere, sondern daß er völlig angewiesen ist auf die Leitung durch Konventionen (als Bestandteile eines kollektiven Wissensvorrates) und intellektuelle Operationen.

Mit der Sichtweise des Menschen als eines kompensierenden Mängelwesens verliert die Annahme einer objektiven Werthierarchie, in welcher der Mensch ganz oben steht, ihre Plausibilität. Die Annahme, daß das, was uns von anderen Spezies unterscheidet und auszeichnet, auch einen objektiv höheren Wert verleiht, verliert ihre scheinbare Selbstverständlichkeit. So betrachtet gibt es auch keine Präsumtion gegen den Wert von Lust, sondern nur die Einschränkung, daß unter den Bedingungen der Instinktausstattung unserer Spezies ein unkontrolliertes Luststreben einen geringen Orientierungswert hat, daß uns – unter diesen Gegebenheiten – das Streben nach Lust und das Vermeiden von Unlust irreführen kann. Die Kritik der Lust und des Luststrebens behält ihre Aktualität für eine Beurteilung der menschlichen Lust, doch sie verstärkt den Eindruck, daß das Problem nicht in einer Minderwertigkeit der „animalischen Lust“ liegt, sondern im quasi-zynischen Irrtum, daß es das Beste für den Menschen wäre, das Leben von Tieren (so wie wir es verstehen oder mißverstehen) zu imitieren. Dies ist nicht deshalb gefährlich, weil Tiere inferior wären, sondern weil wir Mängelwesen sind, deren Instinkte nicht unfehlbar im Dienste des Überlebens funktionieren. Nicht unsere angebliche wertmässige Überlegenheit, sondern unsere „Instinktdekadenz“ macht uns zu Wesen, die für ein unkontrolliertes Leben der Lust ungeeignet sind. Die Lust der Tiere ist nicht des Menschen unwürdig, sondern wir können sie uns nicht ohne Vorbehalte und Kontrolle leisten, ohne an ihr zugrunde zu gehen.

Der Mißbrauch des Tier-Mensch-Vergleichs zur generellen Abwertung der sensorischen Lust wird damit vermieden. Selbst das Leben der Auster (vgl. Platon, Philebos 21c-d) könnte als in sich gut, und jedenfalls nicht mehr als verächtlich erscheinen. Nur wäre selbst das, was durch eine Abstimmung aller Ochsen, Pferde und die übrigen Tiere zum höchsten Rang erhoben würde (vgl. Platon, Philebos 67b), nicht automatisch nachahmenswert für die Menschen, weil die Menschen kein natürliches Maß haben oder weil für die Menschen weder die animalische noch die menschliche Natur als unbefragte Norm in Frage kommt.

Die Vernunftnatur des Menschen wird auch als Ausgangspunkt verwendet, um daraus zu schließen, daß der Mensch mehr als „nur“ ein Objekt oder Ding der Natur ist, aber auch mehr als eine Ware oder eine Ressource. Damit sind wir bei einer der stärksten Intuitionen angelangt, die bereits von Spinoza und Locke als Argument gegen die „Versklavung“ des Menschen benutzt wird, nämlich die Intuition, die besagt, daß der Mensch mehr ist als ein Mittel zur Erreichung von Zwecken anderer und daß er – aufgrund dieser Dignität – auch anders behandelt bzw. respektiert werden sollte. (Wie stark dieses „sollen“ zu verstehen ist, ob es ein kategorisches oder bloß ein hypothetisches Sollen ist,

Die Deutung des Instrumentalisierungsverbots als Versklavungsverbot läßt sich nicht tel quel auf Wesen übertragen, die einer bestimmten Behandlung nicht eindeutig zustimmen oder sie eindeutig ablehnen können. Die meisten nicht-menschlichen Lebewesen verfügen nicht über die kognitiven Kompetenzen zu einer informierten und freiwilligen Zustimmung. Wird das Instrumentalisierungsverbot verknüpft mit der Autonomie, d.h. der Fähigkeit, sich selber Regeln zu geben und mit dem Wunsch, nicht unter Regeln leben zu wollen, die uns andere aufzwingen, so fallen Tiere, aber auch Kleinkinder aus dem Anwendungsbereich heraus. Ein strikter Kantianer wird sich deshalb weigern, das Instrumentalisierungsverbot auf nicht-autonome Wesen anzuwenden.

Der strikte Kantianer wird sogar bestreiten, daß Kleinkinder und Tiere eigene Wünsche haben; unter ‚eigen‘ versteht er Wünsche, die ein Wesen beurteilen und bejahen oder verneinen kann, was Reflexivität und ein Selbstbewußtsein voraussetzt. Nur Wünsche, die ein „reflective endorsment“ erfahren, kommen als normative Zwecke in Frage. Wünsche konstituieren per se keine Zwecke. (Vgl. Korsgaard 1996, 49-89, 164) Die kruziale Frage lautet natürlich, ob nur eigene Wünsche in diesem rationalen Sinne des Wortes moralisch relevant sind oder ob reflexiv nicht-bewertete Wünsche moralisch relevant sind und das gleiche moralische Gewicht haben können. Dies scheint manchmal der Fall zu sein (z.B. beim Baby, das Hunger hat), manchmal nicht (beim Baby, das dabei ist, eine Nadel zu verschlucken oder auf der befahrenen Straße zu spielen), wobei diese Unterscheidung nicht durch ein „reflective endorsment“ des Babies zustande kommt, sondern durch eine externe und stellvertretende (paternalistische) Evaluation durch andere Personen. In einem schlichten Sinne von ‚eigen‘ ist es selbstverständlich, daß empfindungsfähige Wesen eigene Wünsche haben, nämlich den Wunsch, Freuden und keine Schmerzen zu haben (stets im trivialen Sinne der ‚eigenen‘ Freuden und Schmerzen). Auch eine strikte Kantianerin kann heute (gegen Kant) die Auffassung vertreten, daß wir gegenüber einigen Wünschen nicht-menschlicher Lebewesen Pflichten haben können. (Vgl. Korsgaard 1996, 92)

Die teleologische Naturauffassung könnte gegenüber einer rationalistischen oder Kantianischen Auffassung davon ausgehen, daß alle oder zumindest alle empfindungsfähigen Wesen einen Zweck in sich selber haben, dem wir Respekt schulden. Es geht hier um die Auffassung, daß jedes Wesen eine „Stellung im Weltganzen“ hat. Diese Auffassung wurde bereits im 19. Jahrhundert im Rahmen einer Ethik des Geschmacks porträtiert und kritisiert.

„Ein Baum z.B. hat in der Harmonie der Natur die Aufgabe, zu blühen, Früchte zu tragen usw., seine Zweige und Blätter frei zu entfalten und möglichst viel Sauerstoff auszuatmen, der dem Tierreich zugute kommt; diese eigentümliche Stellung wird alteriert, wenn man z.B. den Baum in künstliche Figuren verschneidet, ihn beschädigt oder seine natürliche Entfaltung unterdrückt. Ein Hund ferner ist ein Wesen, das von Natur auf überwiegende Fleischkost, auf Jagd und Wachsamkeit angewiesen ist; wer den Hund deshalb zur Jagd oder als Wächter des Hauses benutzt, gibt ihm Gelegenheit, das zu üben, worauf seine Natur angelegt ist, – dagegen wird eine seiner Stellung in der Ökonomie der Natur zuwiderlaufende Behandlung des Hundes als Disharmonie mißfällig empfunden werden. Wie der Mensch in dem unorganischen Dinge die Bestimmung zu achten hat, die es für das Ganze erfüllt, wie er in der Pflanze das vegetative, im Tiere das empfindende Wesen respektiert, so ehrt er um der universellen Harmonie willen im Menschen das vernünftige und sittliche Wesen, wozu z.B. gehört, daß er ihn zu seinen Zwecken nicht anders braucht als vermittels des eigenen Willens des andern um des Einflusses, den er durch Beweggründe auf diesen hat. [Anmerkung von Hartmann: Dies allein ist der haltbare Kern von Kants Forderung, man solle den andern Menschen immer nur als Selbstzweck, nie als Mittel behandeln; denn tatsächlich muß jeder den andern als Mittel für seine Zwecke brauchen.]“ (Hartmann 1924, 123)

Wie Hartmann fortfährt, entspricht dieses Prinzip dem vom Samuel Clark zu Beginn des 18. Jahrhunderts geforderten Prinzip der „fitness of things (aptitudo rerum)“. Nach Hartmanns kritischem Urteil ist ein solches Prinzip nicht dazu geeignet, ein unbestreitbares und objektives Kriterium des Handelns zu bieten, denn es bleibt letztlich im Takt oder Geschmack des Einzelnen verankert, was als harmonisch oder disharmonisch empfunden wird. Überdies seien Disharmonien in den Seelen des Einzelnen in einer komplexen arbeitsteiligen Gesellschaft nicht nur unvermeidbar, sondern auch ein Mittel der kulturellen und zivilisatorischen Dynamik. Harmonie im Individuum und Harmonie im Universum seien nicht als letzte Ziele oder Werte geeignet. Eine ästhetische Ethik, welche Harmonie mit einem vollkommenen Endziel verwechselt, müßte letztlich Erstarrung an die Stelle des Prozesses setzen, denn ohne Disharmonie gebe es keine Entwicklung. (Vgl. Hartmann 1924, 126)

Wichtiger noch: Die zitierte Stelle von Hartmann zeigt, daß eine artgerechte Behandlung von Tieren und Menschen auch dazu dienen kann, sie effizienter und störungsfreier auszubeuten oder zu beherrschen. (Hartmanns Formulierung nimmt Max Webers Definition von Herrschaft voraus.) Für die teleologische Aufgabe des Menschen zieht Hartmann bereits im 19. Jahrhundert die Rolle eine ökologischen Regulators in Betracht – eine Sichtweise, die – insbesondere nach der Verdrängung der Raubtiere – unter anderem ökologische Jagd oder Fischerei legitimiert. (Vgl. Hartmann 1888, 29f.) Eine artgerechte Haltung braucht nicht mit den Forderungen des individuellen Tierschutzes zu koïnzidieren. Artenschutz schließt nicht individuellen Tierschutz ein. (Vgl. Hargrove 1992) Wir kommen damit zum paradoxen Befund, daß gerade die Rücksicht auf den natürlichen Zweck eines Wesens von anderen dazu benutzt werden kann, dieses Wesen um so effektvoller als Mittel zu ihren Zwecken (oder zu den Zwecken eines übergeordneten ökologischen Ganzen) zu nutzen. Von einer Ableitung der Forderung des moralischen Respekts oder moralischer Grenzen der Ausbeutung von Individuen aus der Annahme von Zwecken in der Natur kann keine Rede sein!

Eine offene Frage ist, wie weit der „natürliche Tod“ und die „natürliche Lebensdauer“ für Lebewesen, die keine zukunftsbezogenen Präferenzen haben können oder für solche, die Wünsche nicht reflexiv beurteilen können, wertvoll und moralisch berücksichtigenswert sind. Fügt man z.B. Schafen, die man gut hält, aber mit drei Jahren („wenn ihr Fleisch noch zart ist“) kurz und schmerzlos tötet, ein Übel zu? Ist das Argument des „natürlichen Todes“ oder der „natürlichen Lebensdauer“ moralisch relevant? Oder muß das Argument in ein hedonistisches Vokabular übersetzt werden? Dies würde besagen, daß die vorzeitige Tötung eines empfindungsfähigen Lebewesens dessen „hedonistische Prämie“ verkürzt. Einige werden diese Erwägung als moralisch irrelevant verwerfen; andere werden sie als kontingent wahr oder falsch beurteilen, je nach dem, ob die Tötung eine potentielle hedonistische Bilanz verbessert oder verschlechtert. (Einige Tötungen könnten einem Tier auch schwere Leiden oder eine negative Lust/Unlustbilanz ersparen.)

Die Tatsache, daß auch Kleinkinder (und geistig schwer Behinderte) keine autonome Wesen sind, wurde in der Tradition dadurch vedrängt, daß das Paradigma des Menschen nicht der abhängige, sondern der unabhängige Mensch und Erwachsene war. (Vgl. MacIntyre 1999/2001) In einseitig geistorientierten Richtungen wie z.B. der Theosophie und Anthroposophie wurde dieser „Geistmangel“ des Kindes kompensiert durch eine Idealisierung der Instinktsicherheit und anderer unbewußter Fähigkeiten des Kindes. Dabei wurden Kinder – ähnlich wie Tiere – allegorisch und emblematisch als „Seelenbilder“ der Erwachsenen stilisiert. Der Mangel an kognitiven Fähigkeiten wird zugedeckt durch die Attribution okkulter Potentiale. Auch in C.G. Jungs Traumdeutung erscheint das geträumte Kind als Repräsentation der anima, als das, was das Kind dem träumenden Erwachsenen symbolisch bedeutet, nicht als das, was es sich selber ist. (Vgl. Wehr 1972)

Doch kommen wir zurück zur Idee des Instrumentalisierungverbots, das unter anderem auch den heutigen Empfindlichkeiten für den Kinderschutz zugrunde liegt, insbesondere den weit verbreiteten und intensiven Aversionen gegen Kinderarbeit und sexuelle Ausbeutung von Kindern. Kants Selbstzweckformel bringt die verbreitete Auffassung zum Ausdruck, daß Menschen keine Waren sind. Die Adaptation von Kants Selbstzweckformel an die Anforderungen der Tierethik lautet:

„Handle so, daß du empfindungsfähige Wesen nie nur als Mittel, sondern zugleich auch als Zweck behandelst.“ (Der Vorschlag stammt von Julian Franklin 2005)

Das Instrumentalisierungsverbot wirft eine Reihe von Fragen auf. Einige sollen hier nur skizzenhaft in Erinnerung gerufen werden.

Erste Frage: Auf welche Wesen ist es sinnvoll anwendbar? – Die von Franklin vorgeschlagene Formulierung erlaubt eine Anwendung auf alle empfindungsfähigen Wesen, die ein strikter Kantianer so nicht akzeptieren kann. Empfindungsfähige Wesen mögen unser Mitgefühl verdienen, doch verdienen sie auch jene Anerkennung und Achtung, die wir Wesen schulden, die über Selbstbewußtsein, Selbstachtung und Autonomie verfügen? Man kann sich fragen, ob die Anwendung auf empfindungsfähige Wesen nicht redundant ist, da uns hier bereits das einfache Verallgemeinerungsargument (in Verbindung mit der Gabe des Mitgefühls) lehrt, anderen nicht Leiden zuzufügen, die wir selber nicht akzeptieren könnten. Ob und inwiefern Leidenszufügung auch Instrumentalisierung ist, wird damit zu einer eher sekundären Frage.

Zweite Frage: Wie ist die Grenze zwischen moralisch zulässiger und moralisch unzulässiger Instrumentalisierung zu bestimmen? Diese Frage wird jeweils durch extreme Beispiele beantwortet, indem man z.B. Folter oder besonders grausame Experimente als offensichtliche Fälle von unstatthafter Instrumentalisierung anführt. Die Verdeutlichung durch extreme Beispiele ist jedoch suspekt. Über extreme Beispiele können wir uns zwar rasch einigen, doch wird damit die Frage nach einer genauen Grenzziehung zwischen erlaubt und unerlaubt nur verdrängt. Die heikle Frage geht darum, wie viel wir empfindungsfähigen Wesen zumuten dürfen – nicht darum, ob wir ihnen überhaupt etwas zumuten dürfen und ob wir ihnen besonders schreckliche Leiden zumuten dürften.

Dritte Frage: Formuliert das Verbot der moralisch unzulässigen (oder moralisch sehr bedenklichen) Instrumentalisierung ein absolutes Verbot oder bloße in Verbot prima facie? – Auch diese Frage läßt sich nur kurz und bündig beantworten im Blick auf extreme Beispiele, etwa auf die künstliche Erzeugung von Krebs oder anderen Leiden bei Menschen zur raschen Gewinnung eines wirksamen Medikaments gegen Krebs. Wir könnten z.B. wie Alan Gewirth die Auffassung vertreten, solche schrecklichen Mittel wie die bewußten Infektion mit einem verderblichen Krebs könne durch gar keine moralischen Ziele gerechtfertigt werden. (Vgl. Gewirth 1982, Kapitel 7 und 9) Wenn es überhaupt (begründete) „moral absolutes“ gäbe, dann nur in Bezug auf evidente Extremfälle wie den genannten. Die (Kantianischen oder katholischen) Verteidiger von „moral absolutes“ haben dabei am wenigsten an die Anwendung von Normen auf Tiere gedacht. Die meisten umstrittenen Tierversuche bewegen sich nicht im Bereich der offensichtlichen Horror-Szenarien; die Frage der Bewilligung beziehen sich auf voraussehbare Folgen und die Abwägung von begrenzten Leiden und begrenzten Vorteilen. Sie lassen sich nicht mit dem Hinweis auf ein absolutes Instrumentalisierungsverbot kurz und bündig beurteilen (oder aburteilen).

Vierte Frage: Wie wäre ein Verbot prima facie der moralisch unzulässigen Instrumentalisierung im Konflikt mit anderen moralischen Prinzipien zu gewichten? Diese Frage stellt sich, zumal es neben der Instrumentalisierung schlimmer Übel gibt, die einem Wesen widerfahren könnten. Eine „leichte“ Instrumentalisierung ist z.B. weniger schlimm als ein furchtbarer und lang dauernder Schmerz. Wie genau Dauer und Intensität von Schmerzen abzuwägen sind gegen Einschränkungen der Freiheit oder Schädigungen des Selbstwertgefühls, läßt sich wohl kaum durch einen „moralischen Algorithmus“ ausrechnen.

Diese vier Fragen zeigen, daß es zwar bequem ist, sich auf die Formel des Instrumentalisierungsverbotes („Menschen sind keine Waren“) zu einigen, doch daß es schwierig ist, sich auf die normative Präzisierung zu einigen. Die Anwendung auf nicht-zustimmungsfähige Wesen wird zusätzlich erschwert, weil wir hier die Frage, ob ein Wesen einer depravierenden Behandlung zustimmt oder nicht, nicht bündig beantworten kann. Die anspruchsvollere Frage, wie Tiere als Eigentum und Ware gleichwohl geschützt werden können, ist mit der Leerformel eines generellen Instrumentalisierungsverbot noch nicht einmal gestellt.

Auch die Orientierung an artgemässer (und damit „naturgemäßer“) Haltung ist nur ein Hilfsmittel, sofern wir mit Verstößen dagegen Leiden erzeugen. Nicht artgemäße Haltung und gewisse Reaktionen darauf (wie z.B. Verhaltensstereotype von eingesperrten Raubtieren) können als indirekte Indizien für Leiden verstanden werden. Man wird sich jedoch fragen, ob die Züchtung von nicht-empfindenden Wesen einen unzulässigen Verstoß gegen das Instrumentalisierungsverbot darstellt, die nicht in der Zufügung von Leiden begründet ist, sozusagen eine „reine“ Instrumentalisierung. Wäre es z.B. zulässig, empfindungslose Hunde zu züchten, um an ihnen bestimmte Experimente durchzuführen? Zwar würde man damit die Individuen ganzer Populationen von empfindungslosen Zuchthunden nicht mehr als Zweck, sondern nur noch als Mittel behandeln. Wäre das moralisch schlecht, weil „naturwidrig“? Hätte in diesem Zusammenhang die Rede von „animal liberation“ einen tieferen Sinn, der über bloße Befreiungsaktionen und das Öffnen von Käfigen hinaus geht und so etwas wie einen stellvertretenden Sklavenaufstand bedeutet? Oder müßte die „animal liberation“ so weit gehen, daß sie die meisten Prozesse der Domestikation in Grund und Boden verurteilt und künftig verhindert?

Aktueller als die Naturteleologie ist das Vokabular von Gewalt und Wehrlosigkeit, das dazu geeignet ist, das ausbeuterische Verhalten gegen Tiere in einem weiteren Spektrum von Übergriffen und Aggressionen der Menschen gegen andere Menschen, gegen Frauen, Kinder und Tiere zu sehen. Der Appell an Gewaltlosigkeit findet seinen Widerhall in Friedens- und Frauenbewegungen und verdeutlicht die einseitig männlichen Ideale im Kult des Fleischessens und der Verherrlichung der Jagd. Die Rhetorik der Wehrlosigkeit hat allerdings zwei Schwächen: Sie könnte die Jagd von Wildtieren als „fairer“ erscheinen lassen, sofern diese mehr Chancen zur Flucht haben und nicht einfach bequem abgeschlachtet werden können. Mit der Verherrlichung der Wildtierjagd zum „fairen Sport“ wird aber genau jener Machismo gestärkt, dessen Kritik beabsichtigt war. Überdies wird die Rhetorik der Wehrlosigkeit auch von radikalen Abtreibungsgegnern verwendet; für sie ist Abtreibung eine Form der Diskriminierung der Wehrlosigkeit ungeborenen Lebens. Diese beiden Anwendungen (oder Mißbräuche) zeigen, daß das Verdikt der Gewalt und der Schutz von Wehrlosen zwar hilfreiche Mittel der Persuasion sein können, daß sie aber nicht hinreichend sind zur Charakterisierung der spezifischen Übel, die Tieren zugefügt werden. Tatsächlich ist zur Bestimmung dieser spezifischen Übel der Status der Empfindungsfähigkeit ausschlaggebend, und nicht der Status der Wehrlosigkeit. Wird überdies die Wehrlosigkeit als Resultat einer Unterwerfung und „Versklavung“ (durch Domestikation und Haltung) verstanden, so besteht wohl die Gefahr, daß wir in Tiere Strukturen von Personen projizieren, nämlich die Fähigkeit zur Selbstachtung und Selbstbestimmung nach Regeln.

Das Diskursfeld „Natur“ verhilft der Tierethik nicht zu festen Standards und Kriterien. Der Übergang von buchstäblicher zu metaphorischer Deutung der Natur als „Partner“ ist oft fließend. (Vgl. Prigogine/ Stengers 1990) Sie dient – wie in anderen Bereichen der Bioethik (vgl. Birnbacher 2006) – eher als Inspirationsquelle oder heuristische Anleitung, um den Ursachen von Leiden und den Auswirkungen auf das Wohl und Wehe von Lebewesen auf die Spur zu kommen. Unnatürliche Veränderungen, Eingriffe oder Einschränkungen sind nicht per se moralisch verwerflich, doch sie sind oft genug Indikatoren für die erhöhte Wahrscheinlichkeit, daß die eigenen Interessen von Lebewesen nicht oder nicht genügend beachtet werden, wenn sie primär als Mittel oder Nahrungsressource, als leicht verfügbare Ware oder Schmuseobjekte verwendet und gehandelt werden. Besteht der Wert eines Lebewesens nur im Preis, den der hungrige Konsument dafür zu bezahlen bereit ist, so steigt die Wahrscheinlichkeit dafür, daß die eigenen Zwecke und Interessen eines solchen Wesens nicht oder kaum gewichtet werden.

 

Literatur:

Bingen, Hildegard von (1991): Das Buch von den Fischen, Salzburg: Otto Müller.

Bingen, Hildegard von (1996): Das Buch von den Tieren, Salzburg: Otto Müller.

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Hartmann, Eduard von (1922): Phänomenologie des sittlichen Bewußtseins. Eine Entwickelung seiner mannigfaltigen Gestalten in ihrem inneren Zusammenhange, dritte Auflage mit den Zusätzen letzter Hand neu herausgegeben von Alma von Hartmann, Berlin: Volksverband der Bücherfreunde, Wegweiser-Verlag.

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Note

1 Vortrag gehalten an der Universität Bern. Für Anregungen und Kritik danke ich den Mitgliedern des Departements für Philosophie, insbesondere den Professoren Andreas Graeser und Klaus Petrus.

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