Ferenc Tallár

Befreiung durch Beschreibung

Die in 1864 publizierte Erzählung Aufzeichnungen aus dem Untergrund ist in der Regel als Wendepunkt in der Dichtkunst von Dostojewski betrachtet. Damit nimmt Dostojewski’s zweite, zu den Grossromanen führende Schöpfungsperiode ihren Anfang. In seiner Interpretation sah Schestow den Kern dieser Wendung in der Abtrennung von dem Humanismus und der humanistischen Ethik: mit diesem Werk habe Dostojewski Gut und Böse hinter sich gelassen. Ferenc Fehér analysiert aber dieselbe Erzählung eben darum, um die Existenz eines "moralischen Mittelpunktes" in der Kunst von Dostojewski beweisen zu können. Und solange Schestow den zweiten Teil dieses zweiteiligen Werkes praktisch beiseite schieben soll1, kann Fehér aus dem Blickwinkel des "moralischen Mittelpunktes" das Ganze des Werkes und die Beziehung des ersten und zweiten Teils in Betracht ziehen. Lesen wir nur den ersten Teil der Erzählung, argumentiert Fehér, d.h. den inneren Monolog des Untergrundbewohners, haben wir kein "objektives", werkimmanentes Kriterium zur Beurteilung, ob sich der Schriftsteller mit der Selbst- und Weltinterpretation des Untergrundbewohners identifiziert hat. Aber "eben deswegen bricht ’die Geschichte’ hier nicht ab", setzt Fehér fort, "deswegen verwandelt sich der bei Dostojewski noch rational gegliederte innere Monolog in eine regelrechte Icherzählung, in eine Konfrontierung des Untergrundbewohners mit seinen ehemaligen Schulkameraden und dann mit Lisa, der Prostituierten". Und Dostojewski, zieht Fehér die Schlussfolgerung, "duldet hier schon keine Zweideutigkeit": von der Ganzheit des Werkes, bzw. vom Ende des zweiten Teils betrachtet, ist das negative Urteil eindeutig.2

Im Wesentlichen hat Fehér meines Erachtens recht. Das Urteil wird hier, wie auch in den anderen Werken von Dostojewski gesprochen, und "duldet keine Zweideutigkeit". Jedoch ist hier Vorsicht geboten, weil die kompositionell sich klar trennenden, auch poetisch unterschiedlichen zwei Teile der Aufzeichnungen eine allzu sehr einfache Lösung bieten: solange der Untergrundbewohner im ersten Teil "nur spricht", im zweiten auch handelt. Würde also der Unterschied zwischen Wort und Tat entscheiden, also die Handlung, in der zeigt sich "wer du tatsächlich bist"? Letztendlich könnten wir das auch so formulieren. Bezüglich Bachtin möchte ich jedenfalls darauf noch zurückkommen, dass der Dostojewskische Held nicht als bloss "vollwertiges Wort" zu interpretieren ist. Allein, wir müssen mit den Ausdrücken "Handlung" und "Geschichte" vorsichtig umgehen. Obwohl dieses grundlegende Konstruktionselement der repräsentative Gattung des rationalistischen Humanismus, des klassischen bürgerlichen Romans, auch in der Dichtung von Dostojewski entscheidende Rolle spielt, jedoch in einer völlig uminterpretierten Form.

Der klassische bürgerliche Roman ist in seiner idealtypischen Form die repräsentative Gattung der rationalen Selbstbehauptung des Individuums, des Geburt des Selbstbewusstseins. Der Held, in seinen Handlungen sich selbst ausdrückend, verwirklicht und gleichzeitig erkennt sich in seinen Taten. Die Erzählung der (Lebens)Geschichte wird dadurch zum Grund der Einheit und Identität des Ich, und wie MacIntyre sagt, "bringt das Ich als narrative Form zustande". Die Frage "Wer bin ich?", beantwortet die die Identität des Heldes sicherstellende Geschichte. Die an sich frei interpretierbare Ereignisse der Verhaltensäusserungen haben wir im Roman als intentionale Handlungen  zu verstehen. Gehe es um Icherzählung oder um die auf die innere, mentale Welt des Helden dritter Person "Fenster öffnende" Narration, in der objektiven, durch den von seinen Helden sich distanzierenden Erzähler eröffneten Welt des klassischen Romans sind die bewusst gemachten inneren Motivationen, Absichten und Dispositionen, die als Motive des Handelns erscheinen und auf diese Weise erleuchten, als was der Held seine Tat beabsichtigte, für den Leser immer erreichbar. Wenn aber das kausal erklärbare Ereignis deswegen ein verstehbares Handeln wird, weil es im Rahmen  einer Geschichte mit der sinngebenden Absicht des Handelnden verknüpft wird, so kann die Tat nur als die "eigene" Tat der handelnden Person verstanden werden, wofür sie rechtens verantwortlich gemacht wird. Anscheinend können wir letztlich auch von Freiheit nur in diesem Falle sprechen. Das heisst dann, und nur dann, wenn die Tat, als intentionale Tat meine eigene ist, folgerichtig ich für sie verantwortlich bin, weil es mir freigestanden wäre anders zu handeln, wenn ich anders hätte handeln wollen. Wie mir scheint, dieser  begriffliche Zusammenhang, in dem die "eigene", auf die Absicht des Handelnden zurückgeführte Tat mit der Autonomie der handelnden Person, mit ihrer Verantwortung und Freiheit in einer Ichidentität sicherstellenden Geschichte zusammengeflochten wird, gab der Handlungsform des klassischen bürgerlichen Romans sein rationales Pathos in einem Zeitalter, als der Mensch noch glauben konnte, er sei Herr sowohl seiner inneren wie auch äußeren Welt.

Heutzutage neigen wir schon zu sagen, dass eben das, was den Held des klassischen Romans so wirklichkeitstreu und erlebbar machte, die Transparenz seines Bewusstseins, nicht mehr, als epische Fiktion war. Diese Fiktion bestand eigentlich nicht darin, dass der allwissende Verfasser auch in solche Winkel des Bewusstseins seines Helden hineinsehen konnte, wozu nur die erste Person, in gutem Falle, Zugang hat. Die Fiktion lag vielmehr in der mit der cartesianischen Philosophie verbündeten Annahme: wenn wir, mit der Hilfe des Erzählers, in den Held hineinblicken können, so entdeckten wir dort, innerhalb des Helden, hinter seinen Taten und Worten, die Quelle, Erzeuger und Schöpfer dieser Taten und  Worte; den cogito, als Antwort auf die Frage "Wer bin ich?". Nach Nietzsche, Freud und nicht weniger nach Dostojewski, ist diese Vorstellung der inneren Herrschaft kaum noch haltbar, aber auch im Falle des klassischen realistischen Romans war sie nur durchlebbar und glaubhaft, weil zur Fiktion der inneren Herrschaft sich die äussere paarte. Der Verfasser des realistischen Romans, der den cogito seiner Helden beherrschende supercogito stellt seinen Held in eine besessene, aufgegliederte und geregelte Welt, in der alles auf eine einzige Verkettung, auf die unaufhaltsam fortschreitende Geschichte aufgefädelt wird, die die Fülle der übereinandergeschichteten Erlebnis- und Zeitebenen durchschneidet.

Für heute blieb aus dem rationalen Pathos, das diese Romanform beheizte, nur wenig übrig, und zu seiner Zerstreuung hat offensichtlich auch Dostojewski beigetragen. Und jedoch: der "moralische Mittelpunkt" setzt sich auch bei Dostojewski aus den uminterpretierten Elementen des oben erwähnten begrifflichen Zusammenhanges, der intentionalen "eigenen" Tat, der Verantwortung und der Freiheit zusammen, noch dazu in einer Geschichte, die zwar die Frage völlig anders stellt, sich jedoch um die Problematik "Wer bist du?/Wer bin ich?" bewegt. Allein, diese Frage kann jetzt mit der Handlung oder der Geschichte des Helden nicht mehr beantwortet werden. Das klare Selbstbewusstsein der rationalen Selbstbehauptung wurde beschattet, die Beziehung von Absicht und Tat wurde fragwürdig: die Tat scheint aus dem Netz der Intentionalität auszufallen, die Bedeutung überschreitet die geschlossenen Grenzen des cogito.

Wir sind mit einer paradoxen Situation konfrontiert, da für den Leser eigentlich kein Zweifel darüber bestehen kann, was geschehen ist: Der Untergrundbewohner demütigt Lisa, dieses ausgelieferte Menschenwesen. Raskolnikow ermordet die Wucherin und ihre einfältige Schwester, Lisaweta. Stawrogin schändet und treibt in Selbstmord ein kleines Mädchen, und er ist Mittäter im Mord seiner Frau. Iwan Karamasow ist ebenso Mittäter im Mord seines Vaters. Diese sind solche Taten, oder vielmehr symbolische Blöcke, die bezüglich der Sünde, der Sündentat keinen Zweifel erlauben. Sosehr es auch stimmen mag, dass kein Weg vom Sein zum Sollen führt und aus Tatsachen keine Werte abzuleiten sind, zählen diese Taten in unserer europäisch-christlichen Kultur eindeutig als Sünde. Ähnlich wie das Kind Raskolnikow, der mit seinem Vater ansehen sollte, wie der betrunkene Bauer, Mikolka, seinen Pferd totschlägt, sieht sich hier der über normalen moralischen Sinn verfügende Mensch nicht mit einem neutralen Ereignis konfrontiert, das er nachher beurteilen soll, sondern mit dem Grauen selbst.

So sehr offensichtlich ist es aber, dass der Untergrundbewohner Lisa demütigt hat, es ist keineswegs ebenso eindeutig, mindestens aufgrund seiner Aufzeichnungen, dass tatsächlich dies seine Absicht war. Hat er bewusst gehandelt? Oder eben seiner besten Einsicht gegenüber, irrational, wie in so vielen anderen Fällen der Akrasia? Auf den Untergrundbewohner werde ich noch zurückkommen, so im Moment genüge es vorzuschicken, dass der in seiner Bedeutung eindeutige, "symbolische Block" der Demütigung von Lisa irgendwie doch unpersönliches Ereignis bleibt: aufgrund seiner Aufzeichnungen können wir zwischen der Tat und der Absicht des Untergrundbewohners keine klare Beziehung eruieren. Und wäre diese Beziehung im Raskolnikow’s Falle so überzeugend klar und distinkt? Selbstverständlich hat er die Wucherin absichtlich ermordet, folgt er aber seinen "eigenen" Absichten? Es fragt sich, ob er sich nicht missversteht, ob er nicht dem Wille eines anderen, nämlich des "aussergewöhnlichen Menschen" seiner Abhandlung Folge leistet, der nicht "er selbst" ist? Glatt gesagt: obwohl die Tat eindeutig ist, die Beziehung zwischen dem cogito und der Absicht ist keineswegs eindeutig. Es ist gar nicht klar, ob Raskolnikow mit der Idee des "aussergewöhnlichen Menschen" und des Mordes spielt, oder diese, ihm vorausgehende und ihn überschreitende Idee spielt mit ihm. Ob seine Begierde seine eigene ist, oder, wie Lacan sagt, die des Anderen? Wer wäre dann aber der "er", mit dem diese Idee doch spielt? Eine unbestimmte Fülle von Absichten, Motivationen und Gedanken, die nur der Name "Raskolnikow" zufälligerweise zusammenhält? Der Held von Dostojewski kann bis zum letzten Moment nicht glauben, dass er den Mord begehen wird, und wenn eine Kette von Zufällen ihn doch bis zu seiner "buchartigen" Tat schwemmt, handelt er im Zustand von Geistes- und Willensverwirrung. Und Stawrogin? Versteht nur einer der Helden des Romans diese Figur? Stawrogin ist der Rätsel selbst, dessen unverstehbare Verhaltensäusserungen seine Umgebung immer wieder mit Hinweisen auf die Geistesverwirrung zu erklären versucht. Und was Iwan Karamasow betrifft, er ist wahrscheinlich das klarste Beispiel dafür, dass die Beziehung zwischen Handlung und Absicht für den Dostojewskischen Held nicht im vorhinein gegeben ist. Iwan erlebt eine andere Geschichte, und nur nach dem Mord versteht, was war die auch ihm selbst verhehlte Absicht, die ihn doch führte, und die der beschränkte Smerdjakow doch von Anfang an verstanden hat.

Dies bildet selbstverständlich nicht den End- sondern den Wendepunkt der Dostojewskischen "Handlungsstruktur". Die Tat, noch dazu eine moralische Sündentat, in ihrer symbolischen Eindeutigkeit hat schon stattgefunden, aber sie bleibt irgendwie doch unpersönlich, oder ist ihre Beziehung zum "Vollstrecker" mindestens unerklärt. Damit nimmt die eigenartige innere Geschichte ihren Anfang, deren Einsatz die Er- und Anerkennung der Wahrheit und damit das Erreichen des eigenen Selbst ist: das Erringen der Verantwortung, Autonomie und Freiheit des Ich, die Neugeburt des bis dahin schleierhaften "jemandes" als Person, die hinter dem Ereignis der Tat stehen und sie auf sich nehmen kann. Aus dieser Sicht ist es kein Zufall, dass der zweite Teil der Aufzeichnungen aus dem Untergrund  eine "weit zurückliegende Erinnerung" erzählt. Die Frage lautet nämlich nicht so, wie der im ersten Teil vorgestellte, bzw. sich selbst vorstellende Held in seinen Taten sich verwirklicht oder verfehlt. Die Erzählung fragt danach, ob der Untergrundbewohner diesem Ereignis seiner Vergangenheit ins Auge schauen, und es nachträglich, als seine Tat auf sich nehmen kann.

Seien nämlich die Absichten und Emotionen auch sosehr unerklärt und schleierhaft, seien der Mensch sosehr auch ein Rätsel, Dostojewski geht es doch um die Wahrheit: der Mensch ist für sich ein solches Rätsel, das gelöst werden soll. Dostojewski’s Held soll seine Tat, die sich irgendwie trüb und wirr schon ereignet hat, aus ihrer Unpersönlichkeit zurückerobern. Er soll es vom Anderen wiedergewinnen: von der Wirrnis der polizeilichen Untersuchungen, juristischen und psychologischen Interpretationen, von der Wirrnis der möglichen vergegenständlichenden Beschreibungen, damit er es, jede kausal-deterministische Erklärung, aber auch das psychologisierende Verstehen zurückweisend, als eine Tat verstehe, wofür er verantwortlich ist. Weil sie ist seine eigene Tat, und nicht das beliebig interpretierbare Ereignis der Welt. Nur durch das Aufsichnehmen der Verantwortung kann er zur Autonomie, durch das Aufsichnehmen der Schuld zur Sühne gelangen, aus der er als freie Person zu neuem Leben erwachen kann. Dies bedeutet die Umkehrung der Logik der rationalistischen Selbstbehauptung: die Verpflichtung geht der Freiheit voran.

Im Falle der Aufzeichnungen kann die obene "Formel" auf die konkrete Frage übersetzt, ob der Untergrundbewohner in der Icherzählung des zweiten Teiles eine solche Beschreibung der Vergangenheit zu geben imstande ist, womit er zu seiner Wahrheit gelangt. Dies Frage wirft selbstverständlich auch eine weitere auf: was ist das, was vor dem Untergrundbewohner die Wahrheit verschleiert, von dem er sich also befreien müsste. Nach dem Zeugnis des ersten Teiles könnten wir darauf folgendes sagen: wovon sich der Untergrundbewohner befreien müsste, ist die keine Transzendenz kennende, alles in sich lösende, sich als Ursprung und Schöpfer der Welt verstehende narzisstische Freiheit des cogito.

Wie wir es bei Hegel lesen können: "Der Ursprung des Bösen überhaupt liegt in dem Mysterium, d.i. in dem Spekulativen der Freiheit", weil in der Freiheit des abgesonderten  Individuums die Möglichkeit gegeben ist, "die Willkür, die eigene Besonderheit über das Allgemeine zum Prinzip zu machen und sie durch Handeln zu realisieren", d.h. "böse zu sein".3 Bei Hegel ist aber diese Absonderung, und damit das Böse nur ein "aufgehobenes Moment" der dialektischen Bewegung der Geschichte, die von der subjektiven Moralität zur Wahrheit der Sittlichkeit, zur substantiellen Ordnung des bürgerlichen Staates führt.  Eben darauf fusst die Hegelsche Konzeption des Romans, laut der die "Poesie des Herzens" mit der "entgegenstehenden Prosa der Verhältnisse"  in Konflikt gerät, und der dadurch entstandene Zwiespalt seine Erledigung darin findet, dass "die der gewöhnlichen Weltordnung zunächst widerstrebende Charaktere des Echte und Substantielle in ihr anerkennen lernen, mit ihren Verhältnissen sich aussöhnen und wirksam in dieselben eintreten".4

Dieser Weg ist offensichtlich nicht der, den die Helden von Dostojewski begehen. Die "Wirklichkeit der konkreten Freiheit", d.h. eine solche institutionalisierte und rechtlich organisierte Wirklichkeit, die als Gesetz, als substantielle Wahrheit auftreten könnte, ist von Dostojewski’s Welt völlig fremd. Von dem jungen Lukács bis Berdjajew und Bachtin die Verfasser von vielen Dostojewski-Interpretationen haben schont festgestellt, dass die geschichtlich-institutionelle Welt in den Romanen von Dostojewski höchstens als Hintergrund derjenigen "Seelenwirklichkeit" dienen kann, in der "der Mensch als Mensch und nicht als Gesellschaftswesen, aber auch nicht als isolierte und unvergleichbare, reine und darum abstrakte Innerlichkeit vorkommt"5. Diesem Menschen, wenn er "wahrhaft wahrer Mensch ist", sei ein einziger Weg bestimmt: "sich aus der sozialen Determination auszuheben und zur konkreten Wirklichkeit der konkreten Seele" zu gelangen.6

Deswegen gibt es keinen Platz in den Werken von Dostojewski für die traditionellen Vertreter des Humanismus, Rationalismus und der bürgerlichen Anständigkeit. Diese können nur am Rande der Werke auftauchen, weil die naive Vermessenheit ihrer Selbstbehauptung sie aus der Dostojewkischen Welt der Seelenwirklichkeit ausschliesst. Der Held von Dostojewski hat die Absonderung von der "Prosa der gewöhnlichen Weltordnung" bis zum letzten Punkt zu treiben, damit das im Mysterium der Freiheit liegende Böse erscheine. Der Weg zur Seelenwirklichkeit führt durch  die narzisstische Freiheit des cogito, durch den romantischen Zwiespalt zwischen dem souveränen Individuum und der Welt. Wie Hegel, setzt also auch Dostojewski den Zwiespalt voraus, so wie in einem zweiten Schritt auch seine Überwindung oder Überbrückung. Zwar folgt Dostojewski, was die Überwindung betrifft, weder der hegelschen Ethik, noch der Dialektik, können wir rechtens mit Ricoeur sagen: "dies beiden Unternehmen haben das gemeinsame Ziel, den Ursprung des Sinns in einen anderen Mittelpunkt zu verlegen, welcher nicht mehr das unmittelbare Subjekt der Reflexion – das ’Bewusstsein’ –, das wachsame, auf seine Präsenz bedachte, um sich selbst besorgte und an sich selbst gebundene Ich ist".7

Was den Zwiespalt betrifft, die Aufzeichnungen aus dem Untergrund scheint ein fast reines Modell zu sein: das Mauseloch, in das der Held sich zurückzieht, oder das lieber um sich herum aufbaut, scheint in erster Annäherung die symbolische Darstellung des Zwiespaltes und der Absonderung zu sein. Der Untergrundbewohner als leidenschaftlicher Apostel entrisst sich aus der Ordnung der Welt und tut aus seinem Loch das Recht des Willens kund. Denn "die Vernunft ist nur Vernunft – schreibt der Untergrundbewohner –  und befriedigt nur die vernunftmässige Fähigkeit des Menschen; das Wollen aber ist eine Bekundung des gesamten Lebens, das heisst das gesamten menschlichen Lebens nebst der Vernunft und allem sonstigen Zubehör."(102)8 Das freie Wollen ist derjenige "vorteilhafteste, Vorteil", um dessen willen der Untergrundbewohner, alles aufgebend, die prosaisch schon organisierte Welt verlässt: "weil der Mensch – schreibt er in einem fast hymnischen Ton – immer und überall am liebsten so gehandelt hat, wie er wollte, und durchaus nicht so, wie ihm Vorteil und Vernunft geboten; wollen aber kann man auch gegen den eigenen Vorteil, und manchmal ist es sogar unbedingt erforderlich (das ist nun eben meine Anschauung). Das eigene freie Wollen, die eigene, wenn auch noch so entsetzliche Laune, die eigenen phantastischen Einfälle, mögen sie auch manchmal geradezu an Wahnwitz grenzen, das, das alles ist eben jener ausser Acht gelassene vorteilhafteste, der sich in keine Kategorie einfügen lässt und durch den alle Systeme und Theorien beständig zum Teufel gehen." (99)

Der Untergrundbewohner kann also ein Held von Dostojewski werden, weil er –  wie Hegel sagen würde: als Vertreter des modernen Zeitalters – der deterministischen Logik der Geschichte die Laune des freien Wollens entgegensetzt, und von dem "Kristallbauwerk", dem Versprechen der utilitaristischen und vulgärsoziologischen Theorien, die die "wahren Interessen" des Menschen aufzudecken versuchen, sich mit Abschauen abwendet. Wenn nämlich der Mensch bloss "Klaviertaste" ist, wenn er auf sein eigenes freies Wollen, auf "die eigene, wenn auch noch so entsetzliche Laune" verzichten muss, dann – fragt der Untergrundbewohner – "was bleibt mir da an freiem Willen".

Jedoch das in der  eigenen Laune verborgene Entsetzliche ist nicht eine einmal auftauchende, abstrakte Möglichkeit dieser Aufzeichnungen, sondern ihre sich entwickelnde, immer stärker werdende Partie. Die in Wahnwitz umschlagende Freiheit des Untergrundbewohners "funktioniert" so, wie die soziale Utopie in der Theorie von Schigaljow, der (in Der Dämonen) aus der "unbeschränkten Freiheit" ausgeht, um zum Schluss zur "unbeschränkten Tyrannei" zu gelangen. Das "eigene freie Wollen" des Untergrundbewohners ist zunächst potentielle Tyrannei jeden anderen gegenüber. Es ist kein Zufall, dass alle menschliche Beziehungen des sich von allen im "masslosen Stolz" abschliessenden Untergrundbewohners gleichzeitig mit "Hass" und "Angst" charakterisiert werden können. Obwohl er seine Mitmenschen "wie die Hammel in der Herde" betrachtet, obwohl er sie alle verachtet, in seine Aufzeichnungen schreibt er: "fürchtete mich aber gleichzeitig vor ihnen. Es kam vor, dass ich sie mitunter sogar über mich stellte…Aber fast vor jedem, mit dem ich zusammenkam, mochte ich ihn nun über mich stellen oder ihn verachten, schlug ich die Augen nieder. Ich stellte sogar Experimente an: ob ich wohl den Blick wenigstens diese oder jenes Mannes würde ertragen können, aber immer war ich der erste, der die Augen senkte."(119)

Der Untergrundbewohner kann dem anderen nicht ins Auge sehen, weil er nicht ertragen kann, dass jemand ihn sieht, dass es ein solches anderes Ich gibt, welches nicht er ist. Und er fürchtet sich, weil er keine andere Beziehung, als die der Macht kennt. Die Absolutheit seines Ich setzend verlässt er die Beziehung von Ich und Du, und kann in dem Nicht-Ich nur den Gegenstand seiner Willkür sehen. In den beiden, beinahe menschlichen Beziehungen, wo die Möglichkeit der Liebe, mindestens an der anderen Seite erscheint, wo sich die Augen ineinanderfügen, kann der Untergrundbewohner nur den Machtkampf wahrnehmen, und ebenso demütigt Lisa wie seinen einzigen Freund aus der Jugendzeit. Ich wahr nicht fähig, Lisa zu lieben, schreibt der Untergrundbewohner, "denn (ich wiederhole es) lieben bedeutete bei mir soviel wie tyrannisieren und moralisch beherrschen…ichhabe mir die Liebe immer nur als einen Kampf vorgestellt, sie stets mit Hass begonnen und mit moralischer Unterjochung des geliebten Wesens beendet". (207)

Von hier aus betrachtet ist Raskolnikow’s Mord, Stawrogin’s sadistische Kinderfolterung nur konsequente Durchführung oder Erfüllung der Sünde, die der seine narzisstische Freiheit setzende cogito begeht, wenn er in der von ihm abgesonderten Welt, in der unbeherrschbaren Transzendenz des Nicht-Ich nur den Gegenstand seines Bewusstseins, das manipulierbare Objekt des "Willens zur Macht" sieht.

Aber das in der Freiheit des Wollens, in der an Wahnwitz grenzenden Laune steckende "Entsetzliche" manifestiert sich nicht nur in der Tyrannei den Ausgelieferten gegenüber. Die Folgen sind "entsetzlich" auch im Hinblick auf das "eigene freie Wollen", dessen Weg, wie Schigaljow es vorhersagt, von unbeschränkter Freiheit zur unbeschränkter Selbstauflösung führt. Es ist kein Zufall, dass das (bei Lévinas später als zentrales erscheinende) Motiv des "Blickes" die ganze Erzählung durchzieht. Es geht nicht nur darum, dass der Untergrundbewohner den Blick des anderen zu ertragen ausserstande ist. Was ihn ebenso schreckt, ist sein eigenes Gesicht. Denn das in dem Blick sich erschliessende Gesicht, die unbeherrschbare Transzendenz der die Ich-Du Beziehung aufbietenden Person ruft ihn aus der fiktiven Selbstidentität des cogito heraus, und bedroht ihn damit, auch in ihm selbst das absolut andere aufzudecken. Wenn er also seine narzisstische Freiheit durch das Auslöschen des Blickes des Anderen, durch seine Vergegenständlichung nicht sicherstellen kann, der Untergrundbewohner vergegenständlicht sich selbst; er wirft sich selbst als Opfer vor den Anderen. Wenn ich mich nicht beirre, hier geht es um eine eigenartige, nicht dialektische Variante der Hegelschen "Herrschaft und Knechtschaft": entweder beherrschen, d.h. den anderen vergegenständlichen, oder mich der Herrschaft unterwerfen, d.h. mich vergegenständlichen – entfremden oder sich entfremden. Daher rührt der "geheime", der "wirkliche Genuss", den dem Untergrundbewohner seine totale Demütigung, das "klare Erkennen der eigenen Erniedrigung" bietet.

Während der Untergrundbewohner nicht weiss, was er "mit dem unterjochten Wesen anfangen könnte", dieser seines Blickes beraubte Gegenstand fängt an ihn zu beherrschen. Wenn jemand versuchte, die Maske von dem Gesicht des Untergrundbewohners herunterzureissen, um herauszufinden "Wer er tatsächlich ist", würde er anstatt der Konturen der Person nur die nebelhafte Anhäufung von Reflexionen und fremden Wörter finden. Der Untergrundbewohner hat "überhaupt nicht verstanden, etwas zu werden, weder boshaft noch gutmütig, weder ein Schuft noch ein Ehrenmann, weder ein Held noch ein Wurm" (77), und er wäre schon damit glücklich, wenn er auf die Frage "Wer bin ich?" damit antworten könnte: ein Faulpelz. Das würde nämlich bedeuten, dass es doch etwas gäbe "was über mich gesagt werden kann" (92). So umkehrt er die Frage "Wer bin ich?" in die Frage "Was bin ich?". Damit kommt der weitere Sinn des "Mausloches" zum Vorschein: was in erster Annährung als die symbolische Darstellung der Absonderung von der Weltordnung, als das Haus des cogito erscheint, tritt jetzt als das Haus des Anderen vor uns. Je mehr der Held sich in sein selbst, in den Untergrund seiner narzisstischen Freiheit zurückzieht, desto mehr ist er den unkontrollierbaren Strebungen des Anderen ausgeliefert: der unstillbaren Begierde jedweder Anerkennung. Weil seine Begierde, könnten wir mit Lacan sagen, "die Begierde des Anderen" ist.

Sein "Loch" ist auf diese Weise der Schneidepunkt fremder Begierden und fremder Wörter. Der Untergrundbewohner monologisiert, aber sein Monolog ist ein ständiger Streit mit dem Anderen, mit "Ihnen", deren Wörter er vorlädt. Deswegen bin ich der Meinung, dass Bachtin, der übrigens genau sieht, dass in Dostojewski’s Welt das Ich nur im Bezug zu dem anderen Ich, zum Du sein wahres Wesen aufdecken kann, an dieser Stelle die Poetik der Aufzeichnungen missversteht. Das Wort des Untergrundbewohners ist zweifelsohne gespaltetes, jedoch schizoides, und kein dialogisches Wort. Anstatt des Dialogs, die Transzendierung auf sich zu nehmen, löst der Untergrundbewohner seine möglichen Dialogpartner in sein Bewusstsein, d.h. er erweitert eben den cogito. Ihre Wörter, als Gegenstände seines Bewusstseins, verfasst und abschliesst er selbst: "Selbstverständlich habe ich alle diese Ihre Worte jetzt selbst verfasst. Das stammt auch aus meinem Untergrund. Ich habe dort vierzig Jahre lang Ihre Worte durch eine Spalte erlauscht. Ich habe sie mir selbst ausgedacht, und das ist auch alles, was ich mir ausgedacht habe. Es ist kein Wunder, dass ich sie auswendig kann und sie eine literarische Form angenommen haben…" (114)

Diese Erweiterung des cogito führt zu einer fruchtlosen Macht. Der begeisterte Apostel des freien Wollens kann einfach nicht wollen, weil er nicht weiss, was er wollen wolle,  und ob er tatsächlich will, was er will -- so endlich löst er in dem endlosen Ozean der Reflexionen auf. Der Untergrundbewohner sieht durch die Welt der von ihm geschafften Gegenständen hindurch, aber erblickt dahinter nur das Nichts: die Zufälligkeit aller Werte, die Eitelkeit jedes Wollens, denn alles könnte auch anders sein. Seine "Klugheit" verwandelt sich damit in eine Belastung: "Ich wiederhole es nachdrücklich: alle Männer des unmittelbaren praktischen Handelns sind eben deshalb tätig, weil sie stumpfsinnig und beschränkt sind. Wie ist das zu erklären? Nun, folgendermassen: durch ihre Beschränktheit sehen sie die nächstliegenden und damit zweitrangigen Ursachen für die ursprünglichen an und gelangen auf diese Weise schneller und leichter als andere Menschen zu der Überzeugung, dass sie eine unanfechtbare Grundlage für ihr Handeln gefunden haben; an, damit beruhigen sie sich dann…Aber wie könnte zum Beispiel ich mich beruhigen? Wo habe ich Grundursachen, auf die ich mich stützen könnte; wo habe ich die erforderlichen Grundlagen? Woher soll ich sie nehmen? Ich übe mich im Denken, und folglich zieht bei mir jede Grundursache sofort eine andere, noch tiefer liegende Ursache nach sich und so weiter bis ins Unendliche." (90-91)

Es scheint also, dass Dostojewski in dem "Wille zur Macht" und im "Nihilismus" die zwei Enden desselben Knäuels gefunden hat. Der Besessene der Willensfreiheit, Nietzsches "souveraines Individuum, das nur sich selbst gleiche,…das autonome übersittliche Individuum"9, beginnt auf einmal auf der Stimme "des ewig Hungernden, des ’Kritikers’" zu sprechen – "des alexandrischen Menschen, der im Grunde Bibliothekar und Korrektor ist und an Bücherstaub und Druckfehlern elend erblindet".10 Im Untergrundbewohner haben viele, und mit vollem Recht, das Vorbild des Übermenschen Nietzsches erblickt. Allein, derselbe Untergrundbewohner spricht auch mit der ohnmächtigen Enttäuschung des von den Konsequenzen seiner Existenz erschreckten, der Begierde des Anderen unterworfenen "sokratischen Menschen": "Lassen Sie uns einmal allein sein, ohne Bücher, und wir werden sofort in Verwirrung geraten und ratlos sein und nicht wissen, wo wir uns anschliessen und was wir festhalten sollen, was wir lieben und hassen, verehren und verachten sollen…Wir sind Totgeburten und werden seit langem nicht mehr von lebendigen Vätern gezeugt…" (212)

"Hier erzählt nämlich nicht jemand von jemandem – zitiere ich die Bemerkung von Dostojewski zur Erzählung Die Sanfte –, und es sind nicht jemandes Aufzeichnungen über sich selbst. Man stelle sich einen Mann vor, dessen Frau tot im Hause liegt, eine Selbstmörderin – vor ein paar Stunden hat sie sich aus dem Fenster gestürzt. Seine Seele ist aufgewühlt, noch kann er die Gedanken nicht sammeln. Er wandert durch die Zimmer und müht sich, in dem Geschehenen einen Sinn zu finden, ’es mit seien Gedanken zu ergründen’. Zudem ist er ein eingefleischter Hypochonder, einer, der Selbstgespräche führt. So spricht er denn mit sich selbst, erzählt, wie es kam, will Klarheit für sich finden…Könnte ein Stenograph ihn belauschen und alles aufzeichnen, so käme es ein wenig holpriger, unbearbeiteter heraus, als man es bei mir findet, aber ich meine, die psychologische Folge würde vielleicht dieselbe bleiben. Und diese Annahme nun: dass ein Stenograph alles aufschreibe und dass ich nachher das Aufgeschriebene überarbeitete – das ist es, was ich an der Geschichte phantastisch nenne."11

Dieselbe Methode der "phantastischen Erzählung" wendet Dostojewski schon in der Aufzeichnungen an, mit dem Unterschied, dass der Stenograph in diesem Falle anwesend ist, noch dazu in der Person des Untergrundbewohners. Er schreibt, als ob er eben (in unvollendeter Gegenwart) denken würde, und er denkt als "einer, der Selbstgespräche führt". Im Gegensatz zur Methode des autonomen Monologs,  der sich bei Dujardin und Joyce ausgebildet hatte12, hat zwar dieses Verfahren eine eigenartige Stilisation zur Folge, erlaubt aber nicht, dass eine selbständige Ebene der Narration zustande komme. Während der Narrator erster Person im Falle der im klassischen Roman verwandten Icherzählung sich zu seinem vergangenen, erzählten Ich so verhält, wie der allwissende Narrator zu dem Held in seinem in dritter Person geschriebenen Roman, fällt im ersten Teil der Aufzeichnungen die Zeit der Aufzeichnung und des Gedankenmonologs, ebenso wie das aufzeichnende und das monologisierende Ich zusammen. Folglich löst sich die abgetrennte Ebene der Narration auf, und damit auch der Verfasser, als letzter Beziehungspunkt.

Was auf diese Weise zustande kommt, ist nicht das dialogische, sondern das mit der Begierde des Anderen belastete, schizoide Wort. Es ist kein Zufall, dass der Leser dieses Textes, der seinen Anfang sozusagen aus dem Nichts (oder aus einer "schlechten Unendlichkeit") nimmt, anfangs nicht entscheiden kann, wer hier ja spricht, wem er spricht, und ob der, der doch spricht (schreibt), überhaupt etwas sagt. Der Untergrundbewohner behauptet, dass das, was er uns (Ihnen) sagt, er nicht uns sagt, und der Text, den wir eben lesen, wir nie zur Hand haben werden können. Und während er immerfort verkündet, dass die Überfülle des Bewusstseins, und sogar das Bewusstsein überhaupt "eine Krankheit, eine wirkliche, reguläre Krankheit" ist, übt er fortwährend die ironische Fähigkeit der Selbstreflexion. In eine unendliche Räsonierung verwickelt, gibt er seiner Vergangenheit immer neue Auslegungen, zieht seine Selbstinterpretation zurück, ändert sie um und dann wieder bekräftigt sie, um am Ende des ersten Teils seine ganze bisherige Räsonierung zurückzuziehen: "wenn ich selbst etwas von alledem glaubte, was ich jetzt niedergeschrieben habe. Ich versichere Ihnen aber, meine Herren, dass ich nichts, auch nicht ein Wort von dem glaube, was ich hier hin gekrakelt habe! Das heisst, ich glaube es vielleicht wendet er wieder an der Sache, aber gleichzeitig fühle und argwöhne ich aus einem mir nicht recht verständlichen Grund, dass ich lüge wie gedruckt." (113)

Fehér Ferenc habe mit seiner Behauptung, in dem ersten Teil finden wir kein "objektives", werkimmanentes Kriterium zum Werturteil, eben darauf hingewiesen. Dies würde ich jetzt lieber so neuformulieren, dass mit der Auflösung des supercogito, mit dem "Tod des Verfassers" (Barthes) bricht auch das cogito zusammen. Die abstrakte, narzisstische Freiheit des cogito, anstatt seine Identität sicherzustellen, verbaut den Weg zu dieser.

Nach alledem scheint der sich der klassischen Icherzählung annähernde zweite Teil ein Zurücktritt zu sein, mindestens wenn man die Tendenz der Gestaltung der Romangattung in Betracht zieht. Die "Entwicklung" der Gattung hält nämlich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts zweifelsohne nach der Ausschaltung oder Auflockerung der Narration, nach dem "Tod des Verfassers". Wie Schopenhauer die Umgestaltung des modernen Romans vorhersagt: "…"13 Dostojewski aber, sosehr er sich auch in die Richtung der Seelenwirklichkeit bewegt, begnügt sich nicht mit der inneren Bewegung des von der Welt abgesonderten cogito. Die konkrete Wirklichkeit der konkreten Seele tut sich nämlich nicht in der Innerlichkeit des cogito auf. Indem Dostojewski im zweiten Teil seinen Held auf den (erfolglosen) Weg der Befreiung von der narzisstischen Freiheit schickt, erobert er die klassisch-humanistischen Elemente der Narration und der Handlung, der verantwortlichen Tat und der Freiheit zurück, gleichzeitig aber auch uminterpretiert sie.

Wie ich darauf schon hingedeutet habe,  der Narrator der klassischen Icherzählung steht gelegentlich mit seinem Held erster Person in einer ebensolcher allwissenden Beziehung, wie der Narrator des Helden dritter Person. Das erzählende Ich erinnert sich als ein ausgebildetes, abgeschlossenes Ich auf sein erzähltes Ich, und erklärt und interpretiert seine vormaligen Taten, Wörter und Gefühle aus der Gegenwart des Erzählens. Die Narration realisiert sich durch den Wechsel der Perspektive und Zeitebene des erzählenden und des erzählten Ich, durch den freien Verkehr auf einer Zeitachse, und es garantiert dem erzählenden Ich tatsächlich "Allwissenheit", oder mindestens kognitives Privilegium, dass er (im Gegensatz zum erzählten Ich) weiss schon, was in der Zeit geschehen war. Er kann sich mit  Selbstsicherheit auf die Suche nach der verlorenen Zeit wenden, um im Besitz der Ganzheit des Lebenslaufes aufzudecken, was im Moment der Erfahrung verborgen blieb.

Diese narrative Situation, diese Rollenbesetzung fehlt aber in der Aufzeichnungen Dostojewkis. Es geht nicht nur darum, dass das erzählende und das erzählte Ich miteinander durchwegs verflochten sind. Die Aufgabe (das Verfahren der Psychoanalyse vorausschickend) bestünde eben darin, dass der Untergrundbewohner in der Gegenwart des Erzählens jenes erzählende Ich zustande bringe, wer endlich imstande wäre sich von dem erzählten Ich loszureissen: von dem Bewohner des von dem Anderen beherrschten Untergrundes. "Bekommt man es fertig, wenigstens sich selbst gegenüber völlig aufrichtig zu sein und ohne Scheu die ganze Wahrheit zu sagen?" (115) Mit dieser Frage setzt der Untergrundbewohner die Erzählung des zweiten Teiles in Lauf. Es geht hier also nicht bloss um ein Bekenntnis, sondern vielmehr um die Frage, ob ich zum Bekenntnis fähig bin. Ob ich überhaupt fähig bin, den Weg in der Zeit zu eröffnen, auf dem sich das narrative Ich laut der Fiktion des klassischen Romans so unbehindert bewegt.

Die erzählte Geschichte mit Lisa ist gemeinplätzig, banal. Was "in der Wirklichkeit" geschehen ist, ist für den aussenstehenden Leser klar –  symbolischer Block. Aber das eigentliche Drama spielt sich auch nicht hier ab, sondern an der Ebene der "aufgehobenen" Narration. Die Frage der Narration wird dramatisch, weil als Frage des Aufsichnehmens der Schuld sich als moralische Frage darstellt: ob das cogito fähig ist, an der Stelle der unkontrollierbaren Macht des Anderen die "konkrete Wirklichkeit der konkreten Seele", den "ethischen Widerstand" des transzendenten Du (Lévinas) zu entdecken. Denn nur diese Entdeckung, nur die Anerkennung des Du kann das erzählende Ich aus seiner Verflochtenheit mit dem erzählten befreien und es zu jener heteronomischen Freiheit führen, die nicht aus der Selbstbehauptung des cogito, sondern aus der auf das transzendente Du gegebenen Antwort, aus der Verantwortung entsteht.

Das Aufsichnehmen der Schuld ist bei Dostojewski deswegen kein trübsinniges, selbstzerstörendes Ereignis, keine Aggression der verinnerlichten gesellschaftlichen Autorität, sondern eben Befreiung von dieser äusseren Autorität, vom Druck des Anderen: die Voraussetzung der Geburt des Ich. Sein letzter und wahrer Akt besteht in der Öffentlichkeit der Selbsterschliessung, in dem Offenwerden für die Beziehung von "Ich und Du" (Buber).

Mit dem Entwerfen des Weges, der von der Absonderung zur Offenheit und Kommunikation, von der narzisstischen Freiheit zur heteronomische Freiheit führt, sind wir zu einem Schema gelangt, das der hegelschen Dialektik der Freiheit sehr ähnlich ist, doch mit dem nicht geringen Unterschied, dass im Falle Dostojewski’s an der Stelle der Dialektik der "Sprung", der letztendlich immer unerwartete Moment der Rechtfertigung steht.

Es ist eine andere Frage, ob Dostojewski, nachdem er seinen Held bis zur Schwelle der "Seelenwirklichkeit" führte, gelungen ist und überhaupt hätte gelingen können, diese Seelenwirklichkeit auch "darzustellen".

Jegyzetek

1 Lev Sesztov: Dosztojevszkij i Nitse. Filoszofija tragegyii. Sz.Peterburg, 1903, S. 54.

2 Fehér Ferenc: Az antinómiák költõje. Dosztojevszkij és az individuum válsága. Magvetõ, 1972, S. 85-86.

3 Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Werke in zwanzig Bänden. Suhrkamp, 1970. Bd.7. §139. (S. 260-261.)

4 Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik. In:Werke in zwanzig Bänden. Suhrkamp, 1970. Bd. 15. S. 393.

5 Georg Lukács: Theorie des Romans. Luchterhand, 1971. S. 136-137.

6 Lukács György: Halálos fiatalság. In: Ifjúkori mûvek. Magvetõ, 1977. S. 686.

7 Paul Ricoeur: Die Interpretation. Ein Versuch über Freud. Suhrkamp, 1969. S.68. Ricoeur spricht selbstverständlich nicht von Hegel und Dostojewski, sondern von den zwei möglichen Richtungen der Hermeneutik des Symbols. Ist aber Hegel eine representative Figur der "Sammlung des Sinnes", so kann neben Marx, Nietzsche und Freud auch Dostojewski als Repräsentant der "Übung des Zweifels" namhaft gemacht werden.

8 Zitiert nach F.M. Dostojewskij: Aufzeichnungen aus dem Untergrund. Übersetzt von H. Röhl, In. Der ewige Ehemann. Aufbau Verlag, 1971.

9 Friedrich Nietzsche: Zur Geneologie der Moral. Ph. Reclam, 1988. S.48.

10 F. Nietzsche: Die Geburt der Tragödie. Nietzsche Werke. Kritische Gesamtausgabe. Walter de Gruyter, 1972. III/1. S. 116.

11 Dostojewski: Die Sanfte. Übersetzt von W. Creutziger, In. Der ewige Ehemann. Aufbau Verlag, 1971. S. 671-672.

12 Im Betreff des autonomen Monologs und der anderen Formen der Icherzählung siehe: Dorrit Cohn: Transparent Minds. Princeton UP. 1978.

13 Arthur Schopenhauer: Sämtliche Werke. Hrsg. Von Arthur Hübscher, Wiesbaden, 1947. VI/2. S. 468-469.

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